Du machst zu unterschiedlichen Jahreszeiten mehrere Reisen nach Dresden und fotografierst die Frauenkirche. Irgendwann suchst Du für einen Kalender das schönste von den Fotos. Anstatt sich jetzt mühsam daran erinnern zu müssen, wann die einzelnen Reisen waren, gibt man nur das Schlagwort Frauenkirche ein und bekommt alle Bilder angezeigt.
Das Problem ist aber, daß diese Tags ja auch gesetzt werden müssen. Das bedeutet, jedes einzelne Bild muß vor dem Abspeichern mit teilweise vielen solchen Merkmalen verziert werden, und das zusätzlich zum Aufwand des Bearbeitens als solchem. ....
Nicht nur das: Am Anfang des Fotografierens (und auch später) weiß ich noch nicht, was ich in 5 oder 10 Jahren suchen möchte. Die Prioritäten ändern sich bzw. man sucht immer mehr Querbezüge und neue Themenbereiche oder Motivserien. So habe ich nie gedacht, dass ich alle Bilder mit Fahrrad festhalten müsste, weil es im Radforum so etwas wie einen Forumskalender jedes Jahr gibt. Würde man aber wiederum alle Bilder mit Rad anschauen, so ist die größte Menge für den verwendeten Zweck irrelevant. Suche ich eine dekorative Blume für eine Geschenkkarte, sind längst nicht alle Blumenbilder brauchbar. Man erzeugt dadurch unsortierte Datenfluten, die das Gedächtnis meistens besser vorsortieren kann: Die besten Bilder mit Rad oder die schönsten Blumenbilder sind dann im Kopf vorhanden - und zwar sogar teils rückwirkend, als man noch gar nicht eine solchss Tagging beabsichtigte. Der ungemeine Erinnerungsvorteil ist, dass man eigene Fotos auch live miterlebt hat, was natürlich bei fremden Fotos ganz anders ist.
Um nochmal auf "Frauenkirche" zu kommen: anfangs denkt man vielleicht nur an "Kirche" oder "Dresden", aber es könnte ja getaggt werden unter "Türme", "Kuppeln", "Uhren", "Fenster", "Religion", "Luther", "Architektur/Bauwerke", "Barock", "Fresken", "Altäre", "Krieg & Frieden", "Trümmer", "Mahnmale/Denkmale", "Ruinen", "Deutschland", "Ostdeutschland/DDR", "Protest/Widerstand", "Wiedervereinigung", "Musik", "Orgeln", "Konzerthäuser", ... - soll ich noch weiter ausführen?????????? - Könnte alles mal relevant sein, wenn man Bilder vielseitig verwerten möchte. Frägt sich dann auch, ob man Tagging nicht besser durch eine klassische Datenbanken mit Schlagwörter etc. ersetzt. Da lassen sich dann auch sich verändernde Begriffe besser synchronisieren.
Hat man aber ein einigermaßen gutes Gedächtnis (was sich schon deswegen einstellen kann, weil man eben nicht unkritisch die Bilderflut in die Speicher abfließen läßt, sondern sich durch die Bearbeitung mit jedem Bild auseinandergesetzt hat) und eine gewisse Ordnung in seinem Ordnersystem, so findet man im allgemeinen, was man sucht. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Das scheint ein Hauptproblem der digitalen Glaubenswelt generell zu sein: Man glaubt, mit technischen Methoden alle Dinge in Griff zu bekommen. Zahllose Nutzlos-Erfindungen drängen so in unseren Alltag (nicht mal nur Digitaltechnik - es kann auch der Eierschneider etc. sein), während man die menscheigenen Fähigkeiten ausblendet und vernachlässigt. Das Gehirn ist weder untrüglich noch allwissend, ist vergesslich und eigensinnig, aber es ist ähnlich wie mit der Demokratie: Man hat noch nichts Besseres gefunden.