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......selbstverständlich Bilder Teil 1:
...... Neuss - Lüneburg Bilder Teil 2:
...... Lüneburg - Usedom Neuss - Usedom & nichts bleibt, wie es einmal war
…….ist ein Radreisebericht, der Rückschau hält und verstrickt ist im Moment. Jeden Tag, jede Stunde kann es sein, dass ich diese Reise beenden muss.
Mein Vater ist ein „Pflegefall“ Sein grosser Wunsch war es immer, niemals in einem Altenheim leben zu müssen. Wir respektieren das und Mama ist seit 1½ Jahren die kraftvolle Stütze in dieser traurigen Situation. Dabei helfe ihr so gut wie ich es kann und habe auch meine Radreise immer wieder verschoben. „Kann ich weg? Heute ja und morgen? Eine Woche? Zwei Wochen?“ Ich habe viel darüber nachgedacht und spüre, dass Regeneration und Ruhe notwendig sind. Deshalb brauche ich jetzt Urlaub. Deshalb mache ich jetzt diese Reise. Ich möchte auch morgen noch mit Kraft und in Liebe meine Eltern unterstützen können. Wir haben besprochen, dass ich die geplante Strecke Neuss – Rügen – Berlin nicht an einem Stück sondern in Etappen fahren werde, die sich nach der Situation zu Hause richten. Im Notfall werde ich innerhalb von 12 Stunden zu Hause sein. Das habe ich meinen Eltern versprochen. 1. Teil von Neuss nach Lüneburg gefahrene Strecke der erste Tag, der linke
Niederrhein Neuss- Wesel 70 km, 75 hm, Sonnenschein
Nach einem kräftigen Frühstück verlasse ich Neuss nördlich über die Lauvenburg, radle an kleinen Seen vorbei weiter nach Meerbusch Osterrath und hoffe, dass ich mich im Meerbuscher Norden nicht verfranse, denn nur die ersten Kreuzungen habe ich noch im Kopf. Der Rest wird sich geben, ich habe ja meine 150.000er Karten
Karte: BVA dabei, die sich im Prinzip als völlig ausreichend erweisen werden, wenn man genau, sehr genau draufschaut. Die Beine fühlen sich gut an und nach 25 km gibt’s die erste Pause in Krefeld-Uerdingen am Rhein. Die Bauruine der alten Ölmühle wird wohl leider auch im nächsten Jahrhundert noch Ruine sein, denn die Stadt Krefeld verhindert hier m. E. im Namen „Aspirinius des Bayer“ eine gescheite Investition in dieser traumhaften Lage mit
RheinBlick auf die Duisburger Rheinauen.
Viel zu erzählen gibt’s hier nicht, die Radwege sind ordentlich gekehrt und gut beschildert. Der Niederrheiner fährt gerne aufrecht auf seinem elektrischen Fahrrad mit Rückspiegel, die Niederrheinerin fährt hoch gelegene größtmögliche Körbchen und man trifft sich im Café und verspeist „lecker“ Apfeltorte am Sonntagnachmittag.
Draußen nur Kännchen gibt es
hier auch nicht mehr in Büderich am Rhein, kurz vor der Weseler Brücke.
Jetzt noch schnell zum Campingplatz, der mich doch überrascht. Jürgen Drews ist nicht tot, nicht unter den Mähdrescher gekommen. Nein, er war 2 Tage vorher noch hier auf dem Party-Dauer-Campingplatz auf der
Grav-Insel. Hunderte von festen Wohnmöglichkeiten, Supermarkt, 2 riesige Leinwände mit Fußballübertragung, perfekte sanitäre Anlagen, sättigende Schnitzel und alles liegt mittendrin in der schönsten Natur.
„Was will Mann mehr!“ sagt der Dauercamper, der schon 20 Jahre in seinem 10-Meter-Wohnwagen, fest ausgebaut, wohnt.
Ich weiss es anders und geh schlafen im gelben HubbaHubba Land auf der „Rheinpromenade“. Die Wege hier haben nämlich Namen.
der zweite Tag, im Lipperland Wesel-Haltern am See 71 km, 58 hm, Sonnenschein
Anruf zu Hause, es ist alles in Ordnung, ich kann beruhigt radeln und Mama freut sich, wenn’s mir gut geht. Ich freu mich, wenn’s ihr gut geht. Dieses Telefon-Ritual ist bewährt, wiederholt sich auf der Reise jeden Abend, jeden Morgen, jeden Tag.Frühstück gibt es heute hinter der Veranstaltungshalle beim Supermarkt. Die Croissants sind pappig, der Kaffee schmeckt labbrig.
Kurz bevor ich abfahre, photographiere ich noch den Trabbi mit Wohnwagen und denke zurück an unbeschwerte Kindertage mit meinen Eltern auf Campingplätzen in vielen Ländern Europas.
Wesel lasse ich links liegen und erfreu mich am rechten Ufer der Lippe des schönen Lipperlands und der Römerroute, der ich, Dank der guten Ausschilderung, blind folge. Asphalt, Wald und Trampelpfade wechseln sich ab und geben immer wieder den Blick auf grasende Kühe in sattgrünen Uferlandschaften frei. Kurzweile entsteht im Plaudern mit einem niederländischen Ehepaar, das auf dem Weg nach Prag ist. Die beiden haben den BikeLine-Führer der Römer fest im Blick, ich fahre irgendwie anders, will zum Kanal und freu mich über einen Rennradfahrer, der mich fragt: „Kann ich dir helfen?“
Ich war so verdattert, als ich aufschaue, denn ER hat angehalten. „Unglaublich und das von einem Rennradfahrer“ antworte ich. Wir lachen beide, er hat geholfen und ich finde den Weg mal wieder zwischen der Lippe und dem Kanal. Irgendwie stimmt diesmal die Karte nicht und ob der Track hinter Dorsten so stimmt, möchte ich heute auch nicht mehr beschwören.
Haltern hat eine Radpromenade, die einmal um den Innenstadtkern führt. Mich führt mein Spürsinn auf die Ostseite des Sees, denke aber, ich sei auf der Westseite.
Trotzdem genieße ich meine Tour und hab richtig Freude mit einem Rollstuhlfahrer, der mich mit einem
Rollstuhlzuggerät zum Campingplatz
Stockwieser Damm begleitet. Mit 17 bis 20 km/h gibt er richtig Gas. Das Teil sah selbstgestrickt aus, doch leider hatte ich überhaupt keine Gelegenheit, ein Photo zu machen. Schade, aber der Mann ist wohl sehr bekannt in der Gegend.
Der Abend klingt aus mit einem Spaziergang am See und einem wohlschmeckenden Schnitzel mit vielen Motorradfahrern hier im
LAKESIDE INN der dritte Tag, „Bauer sucht Frau“
Haltern - Greven/Gimbte 74 km, 68 hm, Sonnenschein
Mit einer herrlichen Waldpassage nördlich des Hullerner Sees beginnt der Tag. Der Weg führt weiter über Feldwege und kleine Nebenstraßen nach Senden zum Dortmund-Ems-Kanal. Ich bin jetzt ganz sicher, in dieser Gegend
muss die Serie „Bauer sucht Frau“ entstanden sein.
Die Münsterländer mögen mir verzeihen. Sicher haben sie genug Freunde in dieser Einöde
beim Feldmann.
Nun gut, die Spaghetti Olio im „Zentrum“ von Senden sind
al dente und geben mir genug Durchhaltevermögen für die Rumpelstrecke entlang des Kanals auf der rechten Seite. Hier wird wohl gerade gebaut (bis zur Autobahnbrücke der A1). Der weitere Weg nach Münster entschädigt mich dann doch ein wenig. Erwähnenswert scheint mir insbesondere der innerstädtische Weg am Kanal, wo der Erotikfaktor dank der Studentinnen doch um ein vielfaches höher einzustufen ist, als am linken Niederrhein.
Der Tag endet in Gimbte, einem Dorf mit schätzungsweise 100 Einwohnern, aber dank Bett&Bike und Ems-Radweg gibt es 3 Hotels und zig Gästebetten. Ich schlaf nach einer ordentlichen Portion junger Bohnen im Gästehaus bzw. Standesamt vom
Hotel Schraeder und träume vom jungen Gemüse.
der vierte Tag, Emsland 100 Schlösser und der Canale Grande
Greven/Gimbte - Bramsche 82 km, 124 hm, Sonnenschein und Wolkenbruch
Ich entscheide mich gegen den Teuto, gegen die Berge und gegen die Fahrt über Osnabrück. Das war gut so, denn meine Beine sind nicht so prima, dass ich da so einfach hochkäme. So dachte ich. Heute, nach der Tour, ist das natürlich gaaaaanz anders, überlege gerade, wie „iassu“ den Gotthard hochzufahren.
Nach dem reichhaltigen Frühstück in Gimbte fragt mich doch Frau Wirtin, ob ich noch ein „Kettenöl“ möchte. Ja, antwortet sie auf mein doofes Grinsen, so würden sie immer die Radler verabschieden. Zum Frühstück Korn? Ich glaube es nicht. Scheinbar stimmt ja der Abschnitt über die „Kultur“ und das Saufen im oben verlinkten Artikel doch!
Ein paar Kilometer weiter, kurz vor dem Emsbrückle in der Pentruper Mersch direkt am Ems-Radweg hätte ich doch einen vertragen können. Hier steht ein nutzloser 15 Meter hoher Schornstein auf dem Acker, den der Künstler in sehr passender Weise
„funktionslose Ziegelbaukörper“ nennt. Dieser ist der sechste von 9 Schornsteinen. Vielleicht kommen, von den Kommunen hochbezahlte Künstler, ja bald mal auf die Idee, Radwege anzumalen.
Am Schloss Surenburg finde ich zurück auf die 100-Schlösser Route, aber leider hat das Restaurant geschlossen. Die planen wohl noch länger hier im schönen Tecklenburger Land. Ab Steinbeck folge ich dem Canal-Grande linksseitig, bis mich vor Bramsche der Wolkenbruch erwischt, der kurze Zeit später Bremen verwüstet. Der Radweg entlang des Kanals ist übrigens auf leichtem Schotter prima zu befahren.
Bramsche hat zumindest einen Berg. Hier finde ich im Regenguss nach der Bergankunft (Tacho sagt: geschobene 14%)
ein wahrhaft ordentliches Quartier, in dem Frau Wirtin am Abend für 4 Gäste Gulasch, Rotkohl und Kartoffeln kocht. Wirklich einen Besuch wert ist dieser
Waldgasthof Renzenbrink Am Abend verabrede ich mich mit einem Kollegen aus dem Forum, der mich doch tatsächlich am nächsten Morgen um 8:30 Uhr abholen und bis zum Dümmer See begleiten will. Ich freu mich und kann’s kaum glauben, denn wenn ich lese, worüber sich die Leute im Internet prügeln, kann ich oft nur den Kopf schütteln.
Dabei sieht die Welt vom Sattel doch sowieso ganz anders aus.
der fünfte Tag, ein langer und sehr lehrreicher Tag
Bramsche - Liebenau 114 km, 68 hm, Sonnenschein & Rückenwind
Es klappt tatsächlich, zuverlässige und echt lebendige Radfahrer treffen sich beim Frühstück und quatschen mit Frau Wirtin über die Geschichte des Gasthofes und die Schwierigkeiten bei der Ausbildung behinderter Jugendlicher. Könnten die Kommunen nicht dafür unser Geld besser investieren, das sie sonst zum Anstrich bunt bemalter Brücken ausgeben?
Ralf gibt mit seinem GPS die Richtung vor. Das geht schon mal schneller als mit meiner Karte, denn wir wissen ja auch, wohin wir wollen. Wir möchten zum Dümmer und bleiben am Kanal. Bei der Brücke
„im Buschort“, verlassen wir den Mittelland-Kanal und fahren über Hunteburg zum See, abwechselnd über schmale Straßen und Feldwege, nach Hüde und genießen das schöne Wetter im Eiscafé. Wie erfrischend und wohltuend kann doch Gefrorenes sein, wenn man es sich zu zweit auf der Zunge zergehen lässt.
Anschließend geht’s noch zusammen bis Lembruch, von wo Ralf zurück nach Vechta fährt und ich weiter nach Osten.
ciao Gesperrte Landstraße mit Rückenwind, Beine die sich im Takt wiegen, die Gedanken schlagen Purzelbäume zwischen zu Hause und der Freude am Radeln auf eigenem Weg. Gedanken an die Zeit, in der ich mit meinem Vater vieles unternommen habe, tauchen auf wie aus dem Nichts. Viele Jahre, Erlebnisse und Erinnerungen fliegen winkend weiter.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten manches besprechen und klären können. Es war um einiges einfacher, als ich zunächst angenommen habe. Ich trauere über die Vergänglichkeit, ärgere mich über verpasste Gelegenheiten und bin andererseits dankbar, dass Papa alles so gut gemacht hat wie er konnte. In diesem Wissen und im inneren Frieden freue mich auf das Wiedersehen mit ihm und der Wind trocknet dabei so manche Träne auf der langen Geraden.Hinter Wagenfeld führt der MEER-Radweg über Feld- und Wirtschaftswege, teilweise auf Betonplatten aber immer mit rechtwinkligen Kurven bis zum Steinhuder Meer. Kurz vor Ströhen verpasse ich wohl ein Schild und lande am Rande des Neustädter Moors auf Sandwegen und muss hier das erste Mal mein Rad schieben. Ein ungutes Gefühl beschleicht mich, doch ich schiebe es unwissenderweise beiseite, trinke in der Hitze mein letztes Wasser, komme mit Hilfe eines Bauern wieder Richtung Ströhen und folge dem MEER-Radweg bis Gösloh. Hier biege ich ab in Richtung NO mit dem Ziel Steyersberg, weil es dort einen Campingplatz geben soll.
Das Ergebnis ist eher niederschmetternd auf diesem Wohnmobilabstellplatz
und so lande ich völlig fertig nach herrlichen 114 km in Liebenau an der Weser. Eigentlich hätte ich mir an diesem Tag anlässlich dieser Rekordstrecke eine fette Herberge gönnen sollen, doch eines der wenigen freien Zimmer finde ich nur im
Deutschen Haus. Abends im Bett frag ich mich, woher all diese Betonplatten kommen über die ich gefahren bin. Mit dem Blick auf die Karte wird mir erstmalig so richtig bewusst, dass meine Tour durch viele Moorgebiete führte, die eine grausame Vergangenheit haben.
Mussten die Strafgefangenen und die Lagerinsassen der norddeutschen Konzentrationslager über diese Betonwege den Torf transportieren?
Ich weiß das nicht, weiß aber, dass ich ungute Gefühle durchaus mehr zu beachten habe. Hätte ich den hilfreichen Bauern darauf angesprochen, dann hätte er mir vielleicht eine Erklärung geben können.
Jetzt, indem ich den Bericht schreibe, entdecke ich nämlich, dass sich in Freistatt, nur 8 km nördlich meiner Route, im Wietingsmoor , die dortige Bodelschwinghsche Erziehungsanstalt befand. Einer von mehr als 92.000 „Betreuten“ hat das Kinderheim den „Moorhof zur Hölle" genannt.
Ich bekomme immer wieder Gänsehaut und fühle eine große Traurigkeit, wenn ich an die Geschichte menschenverachtender Einrichtungen und deren Grundideen denke. Vom Strafgefangenenlager zum KZ und dann weiter zum Erziehungsheim. Es ist für mich völlig unverständlich, dass viele der Konzentrationslager nach dem Krieg nicht abgerissen sondern absurderweise weiter genutzt wurden und werden.
Das KZ Esterwegen im Emsland wurde bis 2000 als Bundeswehr Depot geführt und ist jetzt Gedenkstätte der Gräueltaten in den Emslandlager
Das KZ Börgermoor wurde noch bis 1960 als Gefängnis genutzt. Hier entstand das Lied die Moorsoldaten ,das ich das erste Mal in der Version von Hannes Wader gehört habe.
Heute sind in Freistatt unter der Leitung der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel Behinderten-Werkstätten und Förderschulen untergebracht, die sich „auf eine über 100 Jahre alte Geschichte stützen können.“ Die Betreibergesellschaft "Bethel im Norden" setzt dabei „auf diese festen Wurzeln“ auf und entwickelt „eine gemeinsame christliche Identität für die Zukunft.“ (so steht es in etwa auf der Homepage). Hier könnten erinnernde Worte für mehr Klarheit und wirkliche Veränderung sorgen.
In diesem Zusammenhang wünschte ich mir, dass meine katholische Grundschullehrerin einmal das Lied von Bettina Wegner gehört hätte, bevor sie den Rohrstock auf meinen Händen zerschlagen hat. Kinder
aktuell: Ich möchte, dass die Erinnerung an diese schreckliche Zeit erhalten bleibt. Das sind wir den Opfern schuldig. So kann Veränderung und Heilung geschehen.
Ich habe das hier aufgeschrieben, weil ich zu der Generation gehöre, die Fragen gestellt hat, Fragen auch an die älteren, die im Naziregime schon erwachsen waren. So habe ich gelernt, so bekam ich Antworten, so kann ich heute antworten, wenn sich Menschen für Deutschland und unsere Geschichte interessieren.
Ich bin zu klein und unbedeutend, um die Welt zu ändern, aber ich kann vielleicht dazu beitragen, dass mehr Menschen etwas genauer hinschauen, auch wenn es nur auf der nächsten Radtour durchs wunderschöne Emsland ist.
Danke dafür. der sechste Tag, Crashtag mit Rückenwind
Liebenau - Naturpark Südheide 88 km, 48 hm, Sonnenschein
Petrus meint es heute wieder mal gut mit mir, nachdem er sich in der Nacht so richtig ausgeweint hat. Mir ist auch zum Heulen zumute, hat der DAX doch in den letzten Tagen 1.500 Punkte eingebüßt. Hätte, ja hätte ich mein Zeugs früher verkauft, dann hätte ich mir von der Kohle mindestens einen Pétrus vom passenden Chateau kaufen können.
Hätte, wenn und aber, es nutzt ja alles nix, ich muss weiter, will heute Abend in der Heide eine gute Freundin besuchen. Sie hat zwar kein Schloss und keinen Grand Cru, aber einen sehr großen Bauernhof direkt an der Örtze.
Der Weg dahin führt mich zunächst mal wieder über Wiesen und Felder an einem kleinen See vorbei direkt ins Zentrum von Nienburg an der Weser. Altes Städtchen mit vielen Radfahrern auf dem Weg von Nord nach Süd, von Süd nach Nord. Nur einer, einer fährt nach Osten, dahin, wo es keine interkontinentalen Radwege mehr gibt.
Zunächst über Stöckse, Steimbke, Gilten nach Schwarmstedt und Essel. Der Aller-Radweg ist auf meiner Karte nicht eingezeichnet, also fahre ich auf dem begleitenden Radweg der L180 nördlich der Aller bis Winsen und verliere hier meinen Buff.
Im Eiscafé? An der Tankstelle? Auf dem weiteren Weg nach Feuerschützenbostel? Ich weiß es nicht mehr und Nachforschungen bleiben ergebnislos.
Der Weg hinter Winsen führt durch dichten Wald und die Sand- und Feldwege machen nach der Landstraße mal wieder richtig Laune. Durchatmen und meditatives Radeln an Biotopen vorbei, lässt die Seele wachsen. Auf einer Lichtung im Wald finde ich mein Ziel, werde herzlich begrüßt und verbringe einen schönen Sonnenuntergang bei Freunden im Liegestuhl an der Örtze.
der siebente Tag, lustlos in der Heide
Naturpark Südheide - Amelinghausen 63 km, 73 hm, Sonnenschein und Schauer
Ist doch schön, mit Freunden zu frühstücken!
Ich bin unsicher, wohin ich heute fahren möchte und radle erstmal im Nieselregen Richtung Norden, Richtung Hamburg, trinke den ersten Cappu schon in Herrmannsburg. In Müden an der Örtze bin ich nicht nur müde, sondern auch lustlos. Es läuft nicht so richtig, die Beine machen schlapp, ich brauch mehr Zigaretten als normal. Bin ich satt? Sind es die Sorgen? Irgendwie steh ich mir heute selber im Weg. Ich sollte einen Ruhetag einlegen.
War ja auch alles ein bisschen viel in den letzten Monaten. Nun gut, in Munster mach ich an der Kaserne halt und erinnere mich an alte Geschichten von alten Kumpels, die hier in kalten Zeiten gedient haben.
Das Wort „Reisepanzer“ hat sich ja irgendwie manifestiert. Vielleicht findet mal jemand ein angenehmeres Wort für ein schweres und stabiles Reisefahrrad, auf dem man schutzlos aber friedlich die Welt erkunden kann? Ach, irgendwie hadere ich heute mit mir selbst.
Ich folge der B209 auf dem begleitenden Radweg, genieße die schattenspendenden Wolken und biege an einem Gehöft rechts ab. Da geht es laut Karte Richtung Amelinghausen über die Felder. Gefällt mir besser und tut gut. Die Laune bessert sich wieder.
Auf dem
Campingplatz Lopautal ist es sehr angenehm und ich schaffe es vor dem großen Regen mein Zelt aufzubauen. Das steht auf einer eigenen Parzelle direkt am Restaurant.
Es wird ein sehr, sehr kommunikativer Abend mit Holländern und Einheimischen, für die doch die Misere des
heimatlichen Fußballvereins schwer zu ertragen ist.
Das mag ich. Tagsüber finde ich meinen Rhythmus, oder finde ihn auch nicht, mache, was mir gefällt, rieche die Natur, sehe wie sich Landschaft und höre wie sich Sprache verändert. Dabei fühle ich meine Verbundenheit mit der Erde und erkenne wie wichtig es für mich ist, auf andere Menschen zuzugehen, um nicht alleine zu sein. Im Kontakt sein, da zu sein und dabei zu bleiben wird mir immer wichtiger.
In der Nacht trommelt es so richtig auf mein Zelt. Es bleibt dicht, ich bleibe wach und wetter.com sagt, dass der Regen erstmal bleibt. Na prima. Morgen früh versuche ich mal, vorwärts aus dem Zelt zu krabbeln.
der achte Tag, Rückreise
Amelinghausen – Lüneburg 33 km, 48 hm, wechselhaft
Geweckt werde ich von Vater und Sohn aus dem vereinigten Königreich. Sie sind laut beim Packen ihres Minipacks und unterhalten morgens um 7 den ganzen Zeltplatz.
Die Vorwärtsvariante über meinen Teppich funktioniert bestens, die Croissants sind mir heute hochwillkommen. Kaffee gibt es umsonst und bei bedecktem Himmel starte ich. Leider ist mein Telefonat mit Mama, kurz vor Salzhausen, gefühlt nicht so erfreulich, wie ich sie sonst aus unseren Gesprächen kenne. Die Belastung für sie, ohne meine Anwesenheit, scheint mir zu hoch zu sein.
„Lange kannst Du nicht mehr in der Gegend rumfahren“, denke ich mir.
Haegar hat am Abend keine Zeit, das Wetter soll eher noch schlechter werden. Ich bin hin- und hergerissen.
Irgendwo in einem Bus-Haltestellen-Häuschen entschließe ich mich, die Tour hier und heute abzubrechen und nach Hause zu fahren. Mehr als weitere 2 oder 3 Tage wären sowieso nicht möglich gewesen.
Ein Telefonat mit dem ADAC beschert mir an diesem Sonntag einen Mietwagen ab Lüneburg. Den nehme ich sehr gerne.
Über die Dörfer erreiche ich die Innenstadt, trinke bei herrlichem Sonnenschein noch meinen vorerst letzten leckeren Cappu in der schönsten Stadt, die ich bisher auf dieser Reise gesehen habe und freunde mich mit dem Gedanken an, von hier den 2. Teil der Tour zu starten.
Auf dem Weg zum Autoverleiher schließt sich der Kreis zu dem Tag, als ich in Wesel den Trabbi sah. Auf einem vergitterten Hof springt mir dieser alte cremefarbene Borgward förmlich ins Auge. Mit solch einer eleganten Isabella und einem Wohnwagen bin ich 1960 mit meinen Eltern an die Costa Brava nach
Tossa de Mar gefahren. Beschaulich war das damals. Langsam führte der Weg über die Landstraßen durch Frankreich und Spanien, sehr langsam.
Nach 4 Stunden bin ich wieder zu Hause.
Zu schnell, viel zu schnell. Als erstes muss ich natürlich Papa von der alten Isabella, meinen Erinnerungen an den Urlaub 1960 in Spanien und den Erlebnissen der Fahrradtour erzählen. Er lächelt, während sich unsere Hände halten…..
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Pause...............................................................................................................
Es ist Dienstag, der 23. August 2011,
seit heute morgen befindet sich mein Vater in der Kurzzeitpflege, damit meine Mutter wieder zu Kräften kommen kann. Um bei Bedarf schneller zu Hause zu sein, werde ich morgen früh mein Auto in Lüneburg bei den gelben Engeln abstellen und meine Radtour über Rügen und Usedom nach Berlin fortsetzen. Ich bin gespannt und freue mich riesig aufs Brandenburger Tor, auf Strand, Sand und Sonne, auf neue Erfahrungen, Seen, Wölfe, Hexen, Gespenster und Rückenwind. Ich freue mich, die Veränderung der Landschaft wieder zu fühlen und mit fremden Menschen in Kontakt zu sein. Ich möchte Freunde besuchen und habe endlich mal 16 Tage Zeit am Stück bis ich Papa wieder abhole, ihn nach Hause begleite und ihm sicher wieder vieles von meiner Reise durch
„unserer Mütter und Väter Land“ erzählen kann.
2. Teil von Lüneburg nach Usedom gefahrene Strecke der neunte Tag, Grenz-Erfahrung
Lüneburg - Döbbersen 87 km, 90 hm, Sonnenschein
In Lüneburg kaufe ich mir am Bahnhof noch einen neuen Seitenständer, da sich mein Rad doch vor dem eigenen Gewicht sehr verneigt, packe es wie gewohnt mit 27 kg voll, halte noch ein Schwätzchen beim ADAC und singe ein paar Liedchen auf dem Weg Richtung Schiffshebewerk Scharnebeck, das sicher bald wieder richtig funktionieren wird. Auf der linken Seite folge ich dem Elbe-Seitenkanal bis zur Mündung bei Artlenburg, wobei ich die letzte Brücke rechts über den Kanal verpasse.
Immer noch mit meinen Gedanken zu Hause mache ich erst mal Rast hier am linken Ufer der Elbe. Papa flüchtete im Frühjahr 1945 vor den Russen und schwamm durch diesen Fluss, weiter südöstlich bei Wittenberg/Lutherstadt, den Amerikanern in die Arme. Was wäre wohl heute, wenn er das nicht getan hätte? In Lauenburg überquere ich die Elbe und kurze Zeit später quere ich die alte deutsch-deutsche Grenze zum ersten Mal. Der EDDG-Radfernweg „Ehemalige-Deutsch-Deutsche-Grenze“ führt mich nach Bickhusen, dem ersten Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Hier und im weiteren Verlauf der Reise ich bin fassungslos über die Anzahl der NPD Plakate, die anlässlich der kommenden Landtagswahl, an fast jeder Straßenlaterne hängen. In den Dörfern fällt mir das besonders auf.
Am Museum Tor-21 bei Leisterförde nutze ich die Gelegenheit innezuhalten und fühle mich doch so erleichtert, dass die Zeit der Wachtürme und der Todesstreifen vorbei ist. Eine der menschenfeindlichsten Grenzen auf dieser Welt hat ihren Schrecken verloren, weil hunderttausende mutig und gegen jede Erfahrung aufgestanden sind, um diese Mauer zu stürzen. Ich treffe ein älteres Ehepaar, das ebenfalls mit dem Rad unterwegs ist. Sie erzählt mir, dass sie die alte Grenze erkunden und dabei nur die Feldwege lang fahren. Ja, sie sei damals hier in den Westen geflohen. Ich mache noch ein paar Photos und frage ich mich auf dem weiteren Weg, wie flüchtende DDR-Bürger unbemerkt in dieses fast menschenleere Gebiet kommen konnten, welche Ängste sie auf den Feldern und in den Wäldern gehabt haben müssen, entdeckt zu werden. Es gab keine genauen Karten und schon gar kein GPS.
Die, die den Mut hatten, die es versucht haben, wurden, wenn sie nicht erschossen wurden, anschliessend eingesperrt, jahrelang gequält und viele von ihnen anschließend gegen westliche Devisen verkauft.
aktuell Ich bin ja eher geneigt, die Klappe zu halten, mich auf die Beschreibung der einsamen und wunderschönen Natur mit einer gewissen Selbstironie zu beschränken, aber mir reicht das nicht immer und jetzt schon gar nicht, wenn ich mit der Nase davor stehe. Meines Erachtens ist es wichtig, geschehenes Unrecht zu benennen, wenn man es in Zukunft vermeiden will. Ansonsten beginne ich langsam, mich in meinem ambivalenten Zustand an den wechselhaften Straßenbelägen zu erfreuen.
Zwischen den Dörfern gibt es oft Asphalt, meistens aber Sand oder Pflaster, auch manchmal Pflaster unter Sand und im Dorf immer Kopfsteinpflaster. Es ist gar nicht so schlimm, oft gibt es eine beiläufige Sandspur und außerdem habe ich Zeit. Wäre ja furchtbar wenn alles nur schwarz geleckt aussähe.
Vor Zarentin am Schaalsee rufe ich einen alten Kollegen an. Er wohnt in Döbbersen, lacht sich tot, als er meine Stimme hört und stellt schon mal Bier kalt. Der Weg dorthin führt mich über Bentin und Neuhof erstmal nach Drönnewitz. Ein Sandweg mit hinterlistig verstecktem Pflaster! Du schwitzt und eierst rum und gleichzeitig brennt dir der beißende Geruch der Schweinegülle - links und rechts auf den Feldern - die Schleimhäute weg. Oh wie schön ist Panama. Im schönen Döbbersen gibt es einen feuchtfröhlich-herzlichen Abend mit dem leckeren schwarzen Sternburger aus dem Brauhaus zu Reudnitz
und in dem guten Gefühl auch nach 25 Jahren noch willkommen zu sein, schlafe ich ganz hervorragend.
der zehnte Tag, „wo ist denn hier bitte der nächste Zigarettenautomat?“
Döbbersen – Schwerin 46 km, 110 hm, Sonnenschein
Schon wieder in netter Gesellschaft gefrühstückt! Mein Kumpel erzählt mir noch einiges von seiner Geschichte nach der Wende im Dorf und dass es hier keine Rechtsradikalen geschafft haben, Fuß zu fassen. Wir verabschieden uns mit dem festen Versprechen, keine weiteren 25 Jahre bis zum Wiedersehen zu warten.
Boddin, Perlin, Gross Welzin. Nirgendwo gibt es Zigaretten zu kaufen. Selbst in Gottesgabe finde ich nichts, habe mich jedoch mittlerweile damit abgefunden. Nur manchmal träume ich von einer Tankstellen-App auf meinem Nokia 6310i.
Dass ich deswegen mein Notebook rauskrame ist mir aber auch zu blöde. Bei Neumühle, kurz vor Schwerin, rettet mich eine blaue Tanke und in Schwerin gibt es Mittagessen mit Blick aufs Schloss. Dass hier 2 Gläser Apfelschorle genauso teuer sind, wie das üppige Essen ärgert mich. Ab heute werde ich mein Wasser
vor dem Restaurantbesuch leer trinken.
Die Wege bis hier waren heute wie gestern. Ich mag das, auch wenn’s mich durchrumpelt. Der Brooks jedenfalls hält mich aus und, wenn ich manch unbequemen Weg nicht vertrage, dann vertrage ich auch die Menschen nicht, dann brauch ich auch morgens nicht mehr aufzustehen.
Schwerin ist klasse und gefällt mir mit seiner Lage am See richtig gut. Dass im Landtag die Braunen sitzen verdränge ich dabei. Der Kellner empfiehlt mir noch den
Campingplatz Retgendorf. Am Hafen spricht der Düsseldorfer Yachtie
„kenn ich nicht“. Macht nix, ich fahre und halte mich an einen Trupp Radfahrer, die auch dorthin wollen und finde einen Traumplatz direkt am See.
Die Duschen sind, wie ich es mag. Riiiiiiiiiesig. 5 Stück nebeneinander und Platz für die frischen Klamotten. Der Abend endet im nahe gelegenen Restaurant des Ferienparks Retgendorf mit Zander Filet im Speckmantel und den immer wieder schmackhaften Bratkartoffeln. So kann es bleiben, so geht’s mir gut.
der elfte Tag, der letzte Tag des Sommers
Retgendorf – Heidekaten 42 km, 130 hm, Sonnenschein
Das seitliche Rauskugeln aus dem Zelt kann zu Kollateralschäden des hochgezogenen Zeltbodens führen und ist nicht empfehlenswert. Den Sonnengruß verschiebe ich auf morgen und ein Blick auf die Karte verspricht mir für die nächsten 15 km rote Punkte. Gut befahrbare Sand und Waldwege führen mich über Flessenow, Hohen Vliecheln, Moltow nach Dorf Mecklenburg. Der Weg weiter nach Wismar ist trotz
„angekündigter Sprengarbeiten“ frei und durchgehend asphaltiert.
Der Ostsee-Radweg Richtung Poel enttäuscht mich dagegen auf ganzer Linie. Auf der Karte führt er noch über die Dörfer Müggenburg und Krusenhagen. Ausgeschildert ist er aber am Meer entlang. Ich komme mir vor wie auf einer A 20 für Fahrradfahrer. Mindestgeschwindigkeit 20 km/h. Ich vermisse den Sand, vermisse das Pflaster, vermisse das alte Mecklenburg.
Meinen Sandweg finde ich wieder in Heidekaten. Eine Häuseransammlung mit Künstlern und einer ehemaligen Studentin, die bei mir gearbeitet hat. Vor 18 Jahren ist Andrea hierhin gezogen und hat sich eine Töpferwerkstatt nebst Familie aufgebaut. Seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich freu mich über ihr Lachen, als sie mich sieht.
“Du hast dich ja gar nicht verändert! Nein, und Du schon gar nicht!“ Erst gibt es Kuchen und später Gegrilltes am großen Lagerfeuer. Mit Bier und Wein und anderen Freunden verbringen wir einen schönen Abend, sehen um uns herum das Wetter leuchten, hören alle Mähdrescher in der Umgebung gleichzeitig bis kurz vor Mitternacht. Dann ist es plötzlich still bis es so richtig loskracht. Wetterumschwung mit Blitz, Donner und offenen Himmelsschleusen. Kann kaum schlafen im Zelt, es ist einfach zu schön hier im Dröhnen des Donners so nah an der Natur, hell erleuchtet im gelben Zelt.
der zwölfte Tag, endlich am Meer
Heidekaten – Kühlungsborn 35 km, 61 hm, Regen
Gemeinsam am Frühstückstisch die Brötchen zu kauen, hat wirklich Charme.
Als ich dann endlich um 11:00 Uhr loskomme, bemerke ich, dass das Hinterrad wegrutscht. Da hat sich doch so ein blöder Dorn durch die plattensichere Schwalbe gebohrt. Der erste Plattfuss nach insgesamt 2.550 km. Das dauert natürlich und als ich endlich losfahre, fängt es wieder richtig an zu schütten bei gefühlten 12°. Irgendwo am Salzhaff warnt mich ein voll gepackter Radler vor den Wäldern am Ostseebad Nienhagen, da sei alles überschwemmt, ein Durchkommen unmöglich. Er findet den Ostsee-Radweg übrigens auch bescheiden. Sollte es im Dauerregen auch noch gespenstisch werden?
In Meschendorf sehe ich dann erstmalig die Ostsee, so wie ich sie mir seit Kindertagen vorstelle. Es ist für mich ein geiles Gefühl, den Weg von Neuss
hierhin mit dem Fahrrad geschafft zu haben.
Zur Belohnung blinzelt die Sonne ein wenig durch die Wolken. Mittagspause. Die Nacktbadenden können mich nicht davon überzeugen, in dieses kalte Wasser zu springen. Ich hocke am Strand, schaue in den Horizont und höre den Wind. Dabei fehlt mir eigentlich nur noch ein Grashalm zum Kauen.
Es bleibt kalt. In Kühlungsborn suche ich ein Zimmer und finde eine komplette 2-Zimmer Ferienwohnung für eine Nacht und für mich alleine. Auch nicht schlecht
hier. Auch nicht ganz billig. Egal, ich habe ein wenig gefeilscht und mitleidig aus den Regenklamotten geblinzelt.
Auf der Suche nach einem geeigneten Abendessen fühle ich mich ins Disney-Land versetzt. Neue unwirkliche Häuser, nichts stimmt in diesem Sammelsurium mediterraner hellblau-ocker-gelber Architektursauce hier im Kühlungsborner Westen, mittendrin im Steuerabschreibmodell westdeutscher Zahnarztgattinnen der neunziger Jahre. Kalt und zugig ist es hier. Doch im
Fisch-Hus gefällt es mir und den sehr unterhaltsamen Tischnachbarinnen aus Düsseldorf sehr gut.
Der Abendspaziergang am Strand und zurück, vorbei an den Jugendstilvillen, gibt mir dann doch das angenehme Gefühl in einem Seebad mit alter Tradition zu sein. Ich halte meine Hand noch ins Meer und fühle mich mit der ganzen Welt verbunden. (alte kroatische Weisheit)
der 13. Tag, endlich verschlammte Wälder
Kühlungsborn – Ahrenshoop Ortsteil Niehagen 71 km, 39 hm, trocken
Schon vor Monaten entdeckte ich im Internet den Gespensterwald. Da wollte ich unbedingt hin. Die Vorstellung mit Geistern und Hexen im Nebel zu tanzen war zu verführerisch.
Es hat sich wirklich gelohnt, auch wenn es gar nicht neblig war. Warnungen anderer Radfahrer halten mich nicht ab. Ich
muss da durch.
Der erste Wald vor Heiligendamm ist matschig, doch zum Teil über Bretter gut befahrbar. Ich fühle mich tatsächlich wieder als Kind, fahre jauchzend durch die Pfützen und habe richtig Spaß daran, mich aufrecht auf der Fuhre zu halten und nicht umzukippen. Heute spielt aber auch das trockene Wetter mit und die Sonne lässt die weissen Häuser von Heiligendamm im neuen Glanz erstrahlen.
Der eigentliche Gespensterwald, zwischen Heiligendamm und dem Ostseebad Nienhagen, ist eher weitläufig und so verlieren sich die Spuren von Conti & Co. irgendwie zwischen den Bäumen und Hexen in den nicht einschätzbaren Wasserlöchern.
Ein bisschen Schieben mit dem Blick auf die Ostsee gehört dazu und der Schlamm an den Waden ist irgendwann auch wieder trocken. Ich bin sehr überrascht über den Schwalbe Supreme, dass er mir genügend Halt bietet. Aber ich hab ja auch nicht so ein Pfund in den Beinen, wie so viele andere hier.
Nach Nienhagen ist dann aber doch Schluss mit lustig, denn die Mecklenburger Seenplatte hab ich irgendwo südlicher auf dem Radar und meinen Spass hab ich gehabt.
Über Elmenhorst erreiche ich Warnemünde, ärgere mich über die Beschilderung des Ostsee-Radwegs DURCH den Bahnhof, denn das geht gar nicht mit dem 50 kg schweren Rad-Reise-Dampfer.
.Es ist tierisch voll hier. So viele Menschen. Bloß wegen der AIDA? Kreuzfahrertreffen?
Hinter Graal-Müritz treffe ich im tiefen Wald einen Schweizer. Mein Gott, hat der Kraft in den Waden. Er fährt jeden Tag über 100 km. Ich streng mich richtig an und wir fahren bis Ahrenshoop. Augen immer geradeaus, schnell, schneller brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr.
Eigentlich wollte ich heute noch nach Zingst, verschiebe das aber auf morgen und finde im beginnenden Regen mit Hilfe der Zimmervermittlung eine wunderschöne Pension, die der Familie
Bradhering schon immer gehört. Im gegenüberliegenden Gasthof bekomme ich drei statt der üblichen zwei Bratheringe. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich so ein entspanntes Gesicht mache? Das ist auch einfach, denn hier in der Stube gibt es noch richtige Fischer und Feste und Hochzeiten und Geschichten aus dem Dorf am Saaler Bodden, die mindestens über 3 Tische hinweg für alle erzählt werden. Raucher sind eben kommunikative Menschen!
Zudem dürfe ich auf gar keinen Fall den Darßer Urwald verpassen.
Mücken? Mücken beißen doch nicht!der 14. Tag, Mücken beißen wirklich nicht
Ahrenshoop Ortsteil Niehagen - Zingst 37 km, 33 hm, wechselhaft
Was für ein Frühstück und welch herzliche Atmosphäre bei Familie Bradhering!
Im Darßer Wald hat es die letzten Wochen andauernd und auf das heftigste geregnet. Es ist kühl und heute ist es trocken, die lange Regenhose stört nicht wirklich und der zur autonomen Gesichtsmaske umfunktionierte Buff hält die Atemwege frei. Pause machen geht hier gar nicht auf den Waldwegen. Nur ein Photo und ganz schnell weg, weg vor dieser Mückenbrut. So bin ich fast zum Nichtraucher mutiert, als ich die letzten Meter auf Kopfsteinpflastermarterstrecke zum Leuchtturm runter holpere und meinem Zahnarzt und seinen Technikern von Herzen danke.
Hier muss ich noch mal hin.
Nicht nur, weil der Holzweg am Darßer Ort überschwemmt ist, sondern weil ich auch von der „Großen Buchhorster Maase“ im Wald keine Ahnung habe. Im September oder Oktober ist Hirschbrunft, und da wäre ich gerne dabei. Völlig unsinniger Stress erklimmt mich auf dem weiteren Weg nach Prerow. Das Gefühl, dass ich zuviel Zeit verliere, zu wenig km mache, es nicht mehr rechtzeitig nach Berlin schaffe, wenn ich noch über Hiddensee und Rügen und Usedom und Klein Jasedow und und und fahren möchte, lässt mich einfach nicht los.
Immer wieder, wenn das Telefon klingelt, zucke ich zusammen. Dieses Mal ist es die Stationsschwester des Altenheims „nein, es sei nichts Schlimmes passiert, sie wollten nur fragen, ob........“ Ich spreche mit Papa und rufe Mama an. Doch ja, es scheint alles bestens zu sein und es hilft mir, ihn in guten Händen zu wissen. Trotzdem bin ich traurig. Papa hat immer alles geregelt, sich immer gekümmert und alles gemacht. Dass ihm das schon so lange nicht mehr möglich ist, tut mir einfach weh.Dass es immer dann wie aus Eimern schüttet, wenn ich ein Zimmer suche, kenne ich mittlerweile. 3x Steigenberger in Zingst ist mir aber zu teuer, ich wähle die JH mit Abendessen um 18:00 Uhr, Frühstück ab 07:30 Uhr, Betten 90 x190 und einen Heizraum für mein nasses Zelt. Ich bin zufrieden, erkunde die Seebrücke, denke an
"Barfußschlumpf" und "Claudius" , kaufe mir eine warme Jeans und friere trotzdem wie ein Schneider beim späten Mojito. Hoffentlich ist das Wetter morgen besser, wenn ich mit der Fähre nach Hiddensee schippere.
der 15. Tag, ich bin nicht faul und nehme die Fähre
Zingst – Hiddensee – Lohme/Rügen 37 km, 33 hm, wechselhaft
190 cm Bettlänge reichen mir. Es ist trocken und die 3-stündige Seefahrt nach Hiddensee mit den anderen 4 voll bepackten Reiseradlern ist lustig. Ob die richtige Übersetzung für Radfahrerlatein wohl
„fabula rotare“ ist?
Die Fahrt durch das Naturschutzgebiet Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft ist einmalig schön und eine lohnende Ergänzung des Ostsee-Radweges. Auf Hiddensee steige ich ins Wassertaxi nach Wiek auf Rügen. Diesmal bleibe ich unter Deck. Es regnet wieder bei 11°.
Kap Arkona streiche ich vom Programm. Der Kreidefelsen bleibt Pflicht. Bis Glowe bleibt alles entspannend. Dann lerne ich die Rügener Berge kennen. Heidenei, die guten 140 kg gehen mir Flachlandtiroler ganz schön in die Knochen und ich keuche fluchend die Hügel hoch. Mental stampfe ich dabei mit jedem Tritt den Berg 2" flacher. Geht doch, ja ja
Die Ängste über Rentner in Wohnmobilen, die mir zu nah kommen könnten, lösen sich in Luft auf. Alle fahren mit dem nötigen Abstand neben mit her. Das gilt übrigens für die gesamte Strecke von Anfang an.
Lohme mit seinem
hinreisenden Seglerhafen gefällt mir so gut, dass ich bleibe und sogar noch die 227 Stufen runter zu diesem zauberhaften Café Niedlich und zum Steg in den Sonnenuntergang laufe. Vor ein paar Jahren wäre der Steilhang in Lohme fast ganz abgerutscht und hätte die Idylle unter sich begraben. Mit Hilfe neuartiger Techniken konnte der Hang stabilisiert werden. Hoffentlich hält er, es wäre zu schade um diesen Platz.
Die Visitenkarte vom
Restaurant habe ich behalten, die von meinem
Quartier entsorgt. Irgendwie steht für den Namen des Restaurants in meinen Notizen
„der Tempel der Völlerei“ Es wird schon stimmen, wenn’s da steht.
der 16. Tag, 31. August 2011
Lohme/Rügen - Peenemünde 36 km, 133 hm
Da fragt mich doch diese Xanthippe beim Frühstück, wieso ich 2 Teller nehme, schließlich habe ich ja nur einen bezahlt. Ich hasse diese Unverfrorenheiten, wenn sie nicht vom Köbes kommen, aber wahrscheinlich sollte es ja nur ein Witz sein, den ich Dummkopf nicht verstanden habe. Mit Blick auf das Hotel Schloss Ranzow, da hätte ich mir bestimmt 25 Teller nehmen können, hacke ich mir erstmal mit den Pedalen den Berg kleiner, der hoch zum Königsstuhl über ehemalige gepflasterte Kutschenwege führt. Hier im Wald setze ich mir die Kopfhörer auf. Ich hab Bock auf Paolo Conte und seinem
roten Teufel.
Diavolo Rosso bietet mir genau die Dröhnung, die ich jetzt so richtig laut brauche. Herrlich! Ich liebe diesen Lionel Messi des Kammblasens.
Der Eintritt zum Königsstuhl kostet 6,- Euro und – nur mal kurz für ein Photo - auch. Ich wandere zum kostenlosen Aussichtspunkt, dorthin, von wo alle photographieren und frage mich, womit ich es nur verdient habe im strömenden Regen weiter nach Sassnitz radeln zu müssen. Nur bergab geht das nämlich auch nicht. Dort erfahre ich aber, dass um 15:00 Uhr eine Fähre von Binz nach Peenemünde fährt. Die nehme ich und verabrede mich für den Abend mit einer Freundin in Klein-Jasedow. Sie wird mich in Hohendorf abholen. Bis dort kann ich von Peenemünde mit dem Zug fahren.
Eher gemütlich radle ich nach Binz, schau mir die Größenphantasien der Nazis in Prora an und knipse noch ein Photo für Falk, das er bestimmt schon hundertmal gesehen hat.
Über die Promenade in Binz schiebe ich mein Rad und lerne, dass ich hier vor dem Essen nicht beten muss. Viel zu früh auf der Seebrücke, warte ich schlotternd aufs Schiff und freu mich, Martina zu treffen. Auf der Fähre teile ich mir mit einem Schweizer Ehepaar den Tisch und hoffe dabei inständig, dass mein Geruch nicht allzu sehr stört.
Zwischendurch schreibe ich Tagebuch, guck auf den Horizont, bewundere die Küste von Rügen und ein rotes Velotraum, verdrücke mal wieder „lecker“ Apfelkuchen und denke doch mit ein wenig Schadenfreude an die Radler, die sich auf der Strecke an Land über die üblen 15 km Kopfsteinpflaster quälen.
In Peenemünde finde ich den Bahnhof nur, weil mir der freundliche Schwabe mit dem Velotraum die Strecke zeigt. Wir scherzen noch miteinander und wünschen uns winkend gute Fahrt.
Um 18:11 Uhr erreicht mich die schmerzvolle Nachricht vom Tod meines Vaters hier in Peenemünde am Bahnsteig.
Im Abschied von ihm habe ich beschlossen, diese Tour von hier über Berlin nach Wittenberg/Lutherstadt im nächsten Jahr fortzusetzen. Er hätte es sich sicher gewünscht.
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Danke...............................................................................................................
Danke an die, die mich unterstützten und die mir Mut machten, diesen Text hier und in dieser Form zu veröffentlichen.
Danke an meine Familie und meine Freunde, die mir in der schwierigen Zeit den Rücken gestärkt haben und den notwendigen Freiraum ermöglichten.
Der größte Dank aber gilt meiner Mutter, die meinem Vater mit großer Liebe das Heim ersparen konnte. Sie hat diesen Bericht mit vollster Zustimmung gelesen und ist sehr berührt.
Jürgen
edit: .....................
ein Jahr danach.......................