Anbei ein Bericht meiner letztjährigen Alpen- und Pyrenäentour. Eine etwas andere Auswahl von Bildern gibt es unter obigem Link.
Die Route - ohne Abstecher und Stadtrundfahrten - gibt es bei Gpsies
hier und
hier.
VorgeschichteAnfang des Jahres zeichnete sich ab, dass ich im Sommer zwei berufliche Termine in Mailand und Barcelona wahrnehmen sollte. Nun benutze ich solche Gelegenheiten ohnehin gern zu Radtouren, und in diesem Fall - Sommer, Alpen, Pyrenäen, eine Woche Zeit zwischen den Terminen
Wer da keine Gedanken kriegt, kann kein Radfahrer sein. Flugs ein paar grobe Messungen auf der Karte vorgenommen, und bald stand der Reiseplan fest. Zwei Bemerkungen vorweg:
Erstens, auch wenn es für den Titel gut klang - die "Dienstreise" fand in meiner Freizeit statt, die außergewöhnlichen beruflichen Gegebenheiten gaben nur den Anlass. Der o.g. Zeitrahmen von 23 Tagen bestand aus acht Tagen Arbeit, sieben Tagen Urlaub und vier Wochenenden. Mein Brötchengeber hat Reisekosten gespart, so haben beide Seiten gewonnen.
Zweitens stimmt auch "Lindau-Lourdes" nur eingeschränkt, denn kurzfristig platzte ein weiterer Termin dazwischen und zwang mich zum Verzicht auf den Abschnitt Avignon-Perpignan - nicht so schwerwiegend, da ich diese Strecke schon mal gefahren war. Radfahrerisch gab es also eine kleine Lücke zwischen Start und Ziel.
Mein Rad hatte mehr zu tragen als sonst: erstmals mit Zelt auf großer Reise, dazu der Rucksack mit Laptop und Arbeitsunterlagen. Und dank wettermäßig bescheidenem Frühjahr fühlbar mehr auf den Rippen als sonst. Naja, zumindest
das sollte sich unterwegs reduzieren. Dennoch musste ich mich mit deutlich reduziertem Tempo abfinden, vor allem am Berg.
Die französische Sitte, Départements grob zusammenfassend nach einem geographischen Begriff wie Fluss oder Berg zu benennen, scheint mir auch für Radreisen sehr passend, und so habe ich sie auf die Tagesetappen übertragen.
Los ging's, wie so oft, Freitag nach Feierabend zum Gare de l'Est. Der Nachtzug lieferte mich pünktlich in Ulm ab, gleich weiter mit dem Regionalexpress zum Bodensee. Aus dem Fenster schauend schwelge ich in Reminiszenzen an meine Stuttgarter Zeit: Biberach, Aulendorf, die Schwäbische Eisenbahn in Durlesbach; sechs Jahre bin ich schon nicht mehr im Ländle, und doch scheinen die Erinnerungen wie von gestern. Kurz vor acht rollt der Zug über den Damm nach Lindau.
AlpenrheinEs regnet. Löwe und Leuchtturm blicken ins triste Grau, wo in meiner Vorstellung vom
grand départ ein herrliches Alpenpanorama sein sollte. Schon nach 15 Minuten verlasse ich Deutschland wieder, ist das erste von sieben Ländern der Reise passé.
Das zweite, Österreich, wird zum letzten Einkauf in Euroland genutzt. Und noch ein drittes wird nur heute eine Rolle spielen, Ihr wisst schon welches. Der israelische Satiriker Kishon sagte einst, er könne seinen Gästen vormittags das Land zeigen, aber was mache er nachmittags? Neulich habe er das einem Liechtensteiner erzählt, der habe nicht mal die Miene verzogen.
Kishon sprach nicht von Fahrrädern, aber ist es eine Tour du Liechtenstein, die mir heute vorschwebt. Um 11 bin ich an der Rheinbrücke von Ruggell, und oben auf dem Schellenberg kommt die Sonne raus. Ein Abstecher nach Planken bringt schönen Ausblick über's Unterland.
Nach einer Pause in Vaduz geht es in die Vollen. In Triesenberg proben Alphornbläser, aber auch die romantische Klangkulisse macht das Gepäck nicht leichter. Daher schummle ich ein wenig, lasse das meiste an geeigneter Stelle zurück und klettere unbeschwert weiter. Der letzte Kilometer vor Malbun hat es trotzdem in sich.
Auf der Rückfahrt nehme ich die alte schmale Straße, wo sich das liebe Vieh zu Hause fühlt. Nach Alphörnern jetzt Kuhglocken, fehlt noch ein Edelweiß für's Klischee-Quartett. Ein kurzer, etwas abenteuerlicher Scheiteltunnel führt zurück ins Rheintal, von der Abendsonne verwöhnt.
Auf der Abfahrt wird das Gepäck wieder aufgenommen und mit Balzers die elfte und letzte Gemeinde des Landes abgeklappert. Der Rheindamm bildet die Zielgerade, in Bad Ragaz ist das Tagwerk vollbracht.
HinterrheinAufbruch um sieben, niemand sonst auf dem Campingplatz scheint sich zu regen. Der Tag beginnt mit dem Anstieg ins Taminatal. In Vättis verkleinert sich die Straße, nur ein schmales Asphaltband schlängelt sich durch Blumenwiesen.
Jetzt am Vormittag ist es sehr still, kaum jemand begegnet mir auf dem Weg zum Kunkelspass, nur großes Landschaftskino. Nach den Felstunneln auf der Südseite ist es mit der Idylle vorbei, jäh fällt das Gelände nach Tamins ab.
Der Hinterrhein bringt mich zu zwei Zielen, die mir seit Jahrzehnten ein Begriff sind, nur dem Namen nach. Viamala - erstmals gehört als unheilschwangerer Titel einer Literaturverfilmung. In der engen, tiefen Schlucht kann man sich gut vorstellen, dass die Passage früher ziemlich riskant gewesen sein muss.
Zillis ist mir durch meine Heimatstadt Hildesheim bekannt - unsere Michaeliskirche und die Zilliser Dorfkirche haben die bemalte, mittelalterliche Holzdecke gemeinsam, da ist ein Besuch Pflicht.
Über die Besichtigungen vergeht die Zeit, und das schöne Wetter trübt sich ein, in Andeer kommen die ersten Tropfen, bald regnet es beständig. In Splügen wäre es normalerweise angesagt, den Tag zu beenden - es ist fünf, wir haben Dauerregen, und vor mir liegt ein Pass. Aber dann wäre die morgige Etappe zu lang, ich muss abends in Mailand sein, also weiter.
Ich pack mir zwei Äpfel in die Lenkertasche, jökele im Regen bergauf und beiße demonstrativ genußvoll in die Äpfel. Soll keiner denken, es gäbe ein Problem
An der Passhöhe trockene Sachen angezogen, das Wetter ändert sich nicht.
Bei Pianazzo erspähe ich erstmals ein Stück hellen Himmels voraus. Doch wie zum Trotz öffnet der Himmel jetzt erst recht alle Schleusen. Kurve um Kurve geht es bergab, der Wind treibt den hellen Fleck am Himmel vor mir her wie die sprichwörtliche Karotte vor der Nase.
Erst am Ortsschild von Chiavenna setzt der Regen aus. Ein oder zwei Einheimische blicken sich um, wer da gerade Hurra gerufen hat. Ich sause ohne Pause weiter und erreiche kurz nach Einbruch der Dunkelheit den anvisierten Zeltplatz. Nach anständiger Dusche gibt es noch Pizza im Gasthof - was für ein Tag.
AddaAm nächsten Morgen zeigt sich Bella Italia von ihrer besten Seite - Aufwachen mit Seeblick. Ich packe meine Sachen und will gerade los, da ist mein Fahrrad schon unterwegs und pest mit 200 Sachen gen Süden. Jedenfalls glaubt das mein Tacho, der hat wohl zuviel Wasser abgekriegt. Er erholt sich nach ein paar Tagen.
Auf den Spuren einer
früheren Reise geht es nach Colico und am Ostufer des Comer Sees entlang. Ein Abstecher zur Abtei Piona, auf einer Halbinsel gelegen, ist mit beachtlichem Gerüttel auf Kopfsteinplaster verbunden und stellt sich als nicht so lohnend heraus. Auf dem Umweg übers Valsassina gelange ich nach Lecco an der Südspitze des Sees.
In Lecco beginnt ein hübscher Treidelweg entlang der Adda. Am Stauwehr von Paderno geht es heftig steil in den Ort, auf der anderen Seite genauso jäh wieder bergab, aber sonst ist alles idyllisch im Grünen.
Von Crespi d'Adda, wo sich sich eine Modell-Arbeitersiedlung aus dem 19. Jahrhundert befindet, führt ein Kanal bis nach Mailand. Es gibt mehrere solcher Kanäle, die zur Versorgung der Stadt angelegt wurden.
Der Kanal führt mitten durch die Dörfer und Kleinstädte, die an seinen Ufern entstanden sind. An diesem schönen Sommerabend ist viel los, Radler, Rollschuhfahrer und Passanten, je näher an Mailand, desto dichter wird der Vekehr.
PauseDie nächsten dreieinhalb Tage haben die Beine Ruhe, dafür alle Hände voll zu tun. Dennoch ist mal Zeit für einen Ausflug in die Stadt - Dom, Burg, da Vincis Abendmahl, und was es sonst noch alles zu sehen gibt.
TicinoAm Freitagnachmittag packe ich wieder meine Sachen und ziehe zunächst weiter gen Süden, das Tagesziel heißt Pavia, eine Partnerstadt Hildesheims. Warum wir mit Pavia verschwistert sind? Nun, vor circa 1000 Jahren haben wir denen ihren Heiligen gemopst, der Hildesheimer Dom brauchte schließlich Reliquien.
So steht die geschwinde Fahrt am Naviglio Pavese, ein weiterer der oben erwähnten Kanäle, gewissermaßen im Zeichen des guten Epiphanius. Ein paar Kilometer vor der Stadt nehme ich festes Quartier und besuche die Kartause, ein gewaltiges Kirchenbauwerk, innen wie außen beeindruckend dekoriert. Abends ist noch Zeit für die Stadt selbst.
TaranoDer nächste Morgen beginnt träge; ich tu mich am Frühstücksbuffet gütlich und breche erst um neun auf. Eine gedeckte Brücke bringt mich über den Tessin.
Der Rest des Tages ist auch irgendwie träge und schnell erzählt. Bei bedecktem Himmel geht es Richtung Westen, weitgehend flach in der Po-Ebene und ohne viel Aufsehen. Einziger größerer Ort ist Alessandria, in dessen großer Altstadt nur die Kathedrale hervorsticht.
Ziel des Tages ist Asti, wo auch der einzige Campingplatz weit und breit liegt. Die Altstadt von Asti ist interessanter, und ich verbringe dort eine Weile, bevor ich - relativ früh am Abend - mein Zelt aufschlage.
VaraitaHeute scheint die Sonne, und es geht wieder Richtung Alpen. Eine Einstimmung liefern die Weinberge, die hinter Asti beginnen und mich den Vormittag über beschäftigen. Das eine oder andere Schloss bereichert die Landschaft.
Mittagspause ist in der Kleinstadt Alba, und das nächste Ziel lautet Pollenzo. Dort begrüßt mich Gehupe - der Fahrer eines Kleinlasters feuert mich an. Pollenzo ist auch anderweitig bemerkenswert: Die Dorfstraßen wurden im alten Amphitheater gebaut und zeichnen dessen Grundriss nach. Und dann gibt es noch eine neuzeitliche Burg des Hauses Savoyen.
Anschließend ein langer Treck durch die Ebene unter der sengenden Nachmittagssonne, die Alpen vor Augen. Unterwegs geht mir das Wasser aus, die Zunge klebt schon am Gaumen, als mich der Dorfbrunnen von Piasco vorm Verdursten rettet.
Piasco liegt am Übergang der Ebene in die Alpen, von hier führt die Talstraße immer geradeaus bis zum Col Agnel. Mein Ziel für heute ist Pontechianale, der letzte Zeltplatz vorm Pass, immerhin auf 1600 Metern gelegen. Es ist Sonntagabend, und auf der Gegenspur ergießt sich eine schier endlose Blechlawine in die Ebene.
Erst mit Einbruch der Dunkelheit komme ich ans Ziel. Vorteil: So nahe der Grenze kann ich mich auf Französisch verständigen. Nachteil: Nix mit italienischer Lebensart an lauschigen Sommernächten, das Restaurant hat schon zu, und ich krieg gerade noch eine kleine Focaccia samt Cola in einer Bar.
QueyrasAuch morgens um acht ist tote Hose im Dorf, nicht mal einen Bäcker finde ich. Knurrenden Magens kurbele ich weiter nach Chianale. Ein uriges Bergdorf, zusammengedrängte Häuser mit engen Gassen, und auf dem Friedhof möchte man fast begraben liegen.
Eine kleine Gaststätte finde ich zum Glück auch. Käsebrötchen, mit dicken Scheiben, mjam. Am Ortsausgang steht, der Col Agnel sei heute bis 12 auf französischer Seite gesperrt. Und als ich in den ersten Kehren zurückblicke, hat die Polizei hinter mir alles abgeriegelt. Großartig, ich habe die ganze lange Pass-Straße für mich allein. Nur ein, zwei Radler und das Auto eines Bergbauern begegnen mir unterwegs. Und jede Menge Murmeltiere, die sich ob der ungewohnten Ruhe aus dem Bau trauen und an der Straße tummeln.
Ach ja, steil ist die Straße auch, neun Kilometer mit 10 Prozent. Ich mache ein paar Pausen, schlage genau zur Mittagszeit am Pass auf, und werde freundlich in Empfang genommen: "Félicitations! Komm her, iss, trink, nimm am Gewinnspiel teil..." Es handelt sich um eine Aktion des hiesigen Départements, jeden Tag bis 12 wird ein Pass für Radler freigehalten, und oben gibt es Erfrischungen. Dieser Pass ist einfach zu gut zu mir. Mit breitem Grinsen mache ich mich an die Abfahrt, jeder entgegenkommende Nachzügler kriegt ein "bon courage" zu hören.
Ich fahre nicht direkt ins Tal runter, sondern mache einen Umweg nach St-Véran, seines Zeichens höchstgelegenes Dorf Frankreichs. Über die wacklige Holzbrücke auf dem Foto hätte ich nicht wirklich gemusst, aber sie gab ein gutes Foto her.
Rund um St-Véran sind herrliche Bergwiesen, für mich der landschaftlich schönste Teil der gesamten Reise.
Ich fahre noch weiter hoch bis zur Chapelle de Clausis - kein "Muss", aber ganz nett. Anschließend geht es hinab ins Tal und zum vorgesehenen Zeltplatz in Château-Queyras. Ein vorgesehener Abstecher zum nahegelegenen Sommet du Bûcher wird abgeblasen, da ein Sturm naht. So endet der Tag vergleichsweise früh und war doch mehr als ausgefüllt. Château-Queyras ist trotz Tourismus und imposanter Burg ein totes Nest, das einzige Lokal hat dichtgemacht.
DuranceDie ersten 20 Kilometer heute sind geschenkt, es geht bergab, und die Strecke kenne ich noch
vom letzten Jahr. Dann wird der damals gestrichene Besuch von Mont-Dauphin nachgeholt, einer Vauban-Festung hoch über dem Zusammenfluss von Guil und Durance.
Die folgende Nebenstraße ist bergiger als erwartet - der Name "Balcons de Durance" ist Programm und entschädigt mit schönen Ausblicken.
In Embrun finde ich ein freies Wifi an der Touristinfo und kann ein paar Emails absetzen. Nächste Steigung ist der schweißtreibende Col de Pontis zwischen den Armen des Stausees von Serre-Ponçon.
Oben am Pass hält ein Auto. "J'adore le cyclotourisme", beginnt der Fahrer. Und sein Sohn arbeite nicht weit von Hildesheim, sieh an. Woher und Wohin? "Nach Barcelona." - "Ach, das ist ja nicht mehr weit, nur bergab und dann links." Nee, ich mein schon das große Barcelona - nicht Barcelonnette
Also geht es unten auch nicht links, sondern rechts weiter, jetzt südlich des Sees. Das heißt, direkt am See is' nich', es geht ein paar hundert Meter hoch, dann wieder runter. Es ist schon früher Abend, und die Kurbelei auf der Steigung nach Gigors ist zäh. Auch die ist irgendwann vorbei, und die letzten 30 Kilometer sind wieder geschenkt, kurz nach Einbruch der Dunkelheit erreiche ich den Zeltplatz vor Sisteron. Der Platzwart macht gerade zu und lässt mich noch rein, dafür fällt die warme Mahlzeit erneut aus.
VentouxAbkassiert wird am nächsten Morgen, ich bekomme netterweise einen Rabatt, quasi als Kurzbesucher. Das Wetter ist weniger freundlich, es nieselt während der Besichtigung von Sisteron und darüber hinaus.
Lange Zeit geht es einsam im Tal des Jabron nach Westen und dann über zwei kleinere Cols. Überall blüht hier der Ginster.
Nächster Halt ist das Touristenörtchen Montbrun-les-Bains. Ein Bewohner verwickelt mich ins Gespräch, er lobt das deutsche Fernsehprogramm, das soviel besser sei als das französische. Ich bemühe mich, höflich zu widersprechen. Ein Abstecher führt noch ins Bergdorf Brantes.
Sault ist Ausgangspunkt der Steigung zum Mont Ventoux. Es ist schon fortgeschrittener Nachmittag, und überm Berg hängen Wolken, aber vielleicht lichten die sich ja noch. Die ersten 20 Kilometer sind zäh wie Kaugummi. Auf diese 3-4% kann ich gar nicht, das ist weder Fisch noch Fleisch. Endlich stoße ich auf die Hauptstrecke, wo der Wald aufhört und die "Mondlandschaft" beginnt.
Hier ist nicht nur die Steigung reell, sondern auch der Gegenwind. Und der Nebel, die Wolken haben sich nicht gelichtet. Schon acht Uhr abends, kaum noch was los. Irgendwann beträgt die Sichtweite nur noch fünf Meter. Schau an, hier steht "Sommet du Ventoux", das muss es sein. Das ist alles, nicht mal das Observatorium ist zu sehen.
Außer mir treiben sich noch ein paar anglophone Gestalten im Nebel herum. Wir wünschen uns eine gute Abfahrt, dann vorsichtig los. Eine Welt in Schwarzweiß: dunkelgrau die Straße, hellgrau die Steine, mittelgrau der Nebel, dazu tosender Wind. Irgendwann eine Kehre, und klick! - als habe jemand einen Schalter umgelegt, als sei es nur eine Sinnesstörung gewesen, ist der Nebel plötzlich zu Ende, kehren Farbe und Vogelgesang in die Welt zurück, dazu eine überwältigende Fernsicht auf die Bergketten ringsum.
Ich überlege, den Zeltplatz am Berghang zu nehmen, um morgen früh die Auffahrt bei besserem Wetter zu wiederholen. Aber nach drei Abenden ohne warmes Essen gebe ich Malaucène den Vorzug, da unten gibt es auch um zehn noch ein Lokal mit lecker Nudeln.
VaucluseDie Abfahrt vom Ventoux gab ein irres Gefühl, nach der Plackerei im Gebirge sah ich mich im Geiste nur noch bergab, bergab bis zur Rhône und dann die Küste entlangfliegen, vier Tage bis Barcelona, nichts hält mich mehr auf. Allein, mir ist da noch ein Termin dazwischen gekommen, morgen muss ich in Paris sein. Halb bis Perpignan zu düsen, hat keinen Sinn, ich entschließe mich zu einem Schlenker durch die Vaucluse.
Flach geht es noch bis Pernes, wo ich unversehens auf ein Denkmal des Radreise-Pioniers Paul de Vivie alias Vélocio treffe.
Den Rest des Tages arbeite ich die Michelin-Sterne zwischen Ventoux und Luberon ab. Ein Bergdorf schöner als das andere, aber muss jedes auf seinem eigenen verd... Hügel sitzen? Ein Segen an diesem heißen Tag, dass sie alle mit Trinkwasserbrunnen ausgerüstet sind. Von Venasque zur Abtei von Sénanque, wo Scharen von Chinesen ihr Urlaubsfoto machen. Das geht so: Sie bringt sich in Position und friert ihr Lächeln für circa drei Minuten ein. Er fummelt solange ausdruckslos an seiner Kamera herum, sei es weil er sie nicht bedienen kann oder weil er mindestens fünfzig Aufnahmen macht.
Auch Gordes und Roussillon sind überlaufen; die Ockerfelsen will ich mir nochmal bei weniger Trubel anschauen.
Apt ist der Wendepunkt, eine Kaugummi-Steigung bringt mich nach Bonnieux, dann wie ein Jojo am Hang des Luberon entlang: Lacoste, Ménerbes, Oppède-le-Vieux im Abendlicht, kurz nach Sonnenuntergang bin ich in Cavaillon.
AvigonAusgiebige Fresspause in einer Pizzeria. Die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin vom Wirt, der sich Sorgen macht, wo ich wohl übernachten will. Eigentlich nirgendwo - mein Zug geht morgens um fünf von Avignon. Die Strecke dorthin wird im Dunkeln zurückgelegt. Von einer beschaulichen Nachtfahrt kann keine Rede sein - irgendwer hat entschieden, dass der Mistral nachts auf vollem Gebläse laufen muss. Natürlich von vorn. Ein letzter fieser Hügel wird dank aggressiver Autosuggestion plattgetrampelt.
In Avignon gilt es ein paar Nachtstunden totzuschlagen. Den Kneipenbummlern und ihren Hinterlassenschaften ausweichend geht es Richtung Papstpalast. Der Kamera-Akku gibt seine letzten Kräfte für eine Nahaufnahme der Turmspitzen-Madonna.
Auf der Wiese am anderen Ufer wickle ich mich in die Zeltplane und döse. Regen weckt mich. Och nö... aber es sind nur ein paar Tropfen. Wieder ein paar Tropfen. Pause. Und wieder. Pause. Und wieder. Verdammt, das ist ein Sprinkler. Im Nu bin ich auf und verstaue meine Sachen, da schaltet sich ein zweiter Sprinkler ein und gibt mir die volle Dröhnung.
Ich bin jedenfalls bedient und pedaliere zum Bahnhof.
UnterbrechungIm Zug kann ich etwas die Äuglein schließen, um fit für meinen Termin zu sein. Radfahrerisch ist es nicht wirklich ein Ruhetag, die Pendelei zwischen Paris und den Vororten bringt locker 40 km ein. Zu Hause werden, soweit nötig, Ausrüstung und Kleidung getauscht. Abends bin ich wieder im Bahnhof Austerlitz und nehme den Nachtzug Richtung Süden.
VermeilleMorgens halb acht Ankunft in Perpignan. Der Tag verläuft schleppend, mit vielen Fahrt-Unterbrechungen. Zunächst in Elne, das historische katalanische Identität demonstriert.
Eine weitere längere Pause gibt es im wunderbaren Badeort Collioure.
Vom Meer in die Berge, der Tour Madeloc hat es mir angetan. Bon courage, meint ein Wanderer mit Blick auf mein Rad. Die braucht es dann auch auf den letzten, urst steilen Rampen. Das Picknick mit Ausblick ist umso genüsslicher.
Am späten Nachmittag erreiche ich die Landesgrenze, zum ersten Mal überhaupt bin ich in Spanien.
Zum Feiern ist keine Zeit, da ich weit hinterm Zeitplan zurückliege. Um morgen abend in Barcelona zu sein, muss ich ein paar Stunden Tempo machen. Abends um neun quartiere ich mich auf einem Campingplatz in L'Escala ein. Wie schon in Sisteron kriege ich dank später Ankunft einen Rabatt - trotzdem ist es, ob der Lage am Meer nicht ganz unerwartet, der teuerste Campingplatz der Reise.
Costa BravaUnd zugleich ist es der Platz mit dem kürzesten Aufenthalt, denn schon um halb sieben geht es wieder los, Barcelona ist noch immer weit. Auf der morgens leeren Hauptstraße lassen sich Kilometer bolzen. Die Sehenswürdigkeiten der Region kann ich bestenfalls im Vorbeischauen betrachten wie den Ort Pals.
Eine bleibt mir jedoch, nämlich die wunderbare Panoramastraße am Meer, die bei Sant-Feliu beginnt. Auf und ab geht es, die Aufs nur noch in den kleinsten Gängen, da sich die Anstrengungen der vorangegangenen Tage bemerkbar machen. Und die große Hitze, vier Liter pro 100 km säuft der Motor heute.
Tossa de Mar, von seiner Stadtmauer umringt. Unterwegs endlich mal wieder ein Gleichgesinnter aus Serbien, unterwegs nach Belgrad. Ich hab nicht gefragt, ob er schon den Hinweg per Fahrrad gemacht hat, sonst wär zum Respekt noch Neid gekommen
Gegen halb zwei in Lloret de Mar, hier endet die Panoramastraße und beginnt ein schier endloses Ballungsgebiet, 70 Kilometer am Meer entlang bis Barcelona. Den Schönheitspreis gewinnt dieser Abschnitt natürlich nicht, trotz feinstem Strand.
Mein Versuch strandseits von Hauptstraße und Eisenbahn endet an einer Bachmündung. Als Ausweg hieve ich das Rad übers Bahngleis, dann über die Abgrenzung der Schnellstraße. Zwei pedalierende Polizisten tauchen auf. Ob die mir einen Strick drehen, weil ich übers Gleis gegangen bin? Ach wo. Steigen ab und helfen mir mit dem Gepäck, dann selbst übers Gleis und fahren den Weg, den ich gekommen bin.
Nach weiteren erfolglosen Versuchen am Strand gebe ich auf und fahre die Hauptstraße. Laut, aber zielführend. In Barcelona nur noch kilometerweit die Avenida Diagonal entlang, den ewiglangen Ampelphasen trotzend. Gegen acht Uhr abends bin ich endlich am Ziel.
PauseDrei Tage Erholung für den Körper, während der Geist auch mal was tut. Abends gönne ich mir gar den Luxus einer U-Bahn, um den Bauten Gaudís Reverenz zu erweisen.
Nicht nur die Bauten in der Innenstadt, auch der Parque Güell ist sehenswert.
Für die Sagrada Familia hätte es wohl einer Anmeldung oder endloser Warteschlange bedurft, ich belasse es bei der Außenansicht.
MontserratVier Tage sind zur Rückkehr nach Frankreich vorgesehen, diesmal durchs Landesinnere. Ein früher Aufbruch von Barcelona erspart die Rush-Hour. Bald schon ist das Montserrat-Massiv erreicht, ein langer Anstieg führt zum bekannten Kloster.
Wie schon die überholenden Touristenbusse vermuten ließen, ist oben mächtig Trabbel. Vor der Kirche eine große Traube, die Öffnung der Kirche lässt auf sich warten.
Die charakteristischen Wollsackfelsen der Gegend begleiten den Weg Richtung Westen. Doch beim Verlassen dieses gottesfürchtigen Gebirgszugs schlägt ein Teufelchen zu, liegt in einer Haarnadelkurve Schotter, wo keiner sein sollte, und ich kann nur noch einen möglichst kontrollierten Abgang hinlegen.
Aua. Hab wohl mit der Schulter gebremst. Doch anscheinend ist nichts gebrochen. Raufe mich wieder zusammen und rolle weiter, unterwegs kurze Bekanntschaft mit dem Standstreifen einer Autovia machend. An der Tanke in Igualada werden zwei Coladosen beschafft: eine zur inneren Anwendung und eine zur Kühlung der Schulter. Als ich halbwegs fertig bin, kommt ein Wolkenbruch runter und verlängert die Pause.
Das Rathaus, mithin Repräsentant der Staatsmacht, macht offen Stimmung für eine Loslösung von derselben.
Nach Igualada nimmt die Besiedlungsdichte merklich ab. Einer langen sanften Steigung bis zum Ort Calaf folgt eine ebensolche Abfahrt.
Was klappert denn da unten? Oha, die Pedalachse hat Spiel. Guter Zeitpunkt, meine Laune ist eh im Eimer. Zeltplätze gibt es hier nicht, und mit meiner Schulter habe ich auch keinen Bock drauf. In Ponts wird das erstbeste Hotel angesteuert.
NogueraDie Nacht war beschissen. Kaum geschlafen wegen geschwollener Schulter, und irrsinning heiß war's zudem. Dazu die Zweifel, soll ich überhaupt weiter fahren? Der Hotelier berechnet mir sechs Euro für 'nen Garagenstellplatz. Du mich auch.
Ein geruhsames Frühstück haucht Geist und Körper neue Energie ein. Ich werde einen Versuch machen. Der Rucksack wird hinten auf die Zeltunterlage gespannt, nur der Laptop wandert in eine Umhängetasche. So kann sich die Schulter erholen, in normaler Lenkerhaltung tut auch nichts weh.
Wieder guten Mutes nehme ich den Coll de Comiols in Angriff. Das nimmt den ganzen Vormittag in Anspruch, so eine entsetzliche Kaugummi-Steigung, wo man selten richtig an Höhe gewinnt. Ein älterer Spanier schließt auf, rüstiger Siebziger. Er fahre hier jeden Tag, besser am als Tropf hängen, meint er.
Der Coll de Comiols markiert eine Grenze, der Kreis Noguera wird vom Kreis Pallars abgelöst. Kurioserweise liegt der Hauptort von Pallars am Fluss Noguera. Besagter Hauptort ist Tremp, wo die Pause von einer Art Rallye gestört wird. Alle paar Minuten fährt ein bunt aufgemachtes Fahrzeug von Niederländern durch die Stadt, die ihrem Spaß durch möglichstes Gehupe Ausdruck verleihen. Zur Strafe gewinnt Ihr auch nicht die WM.
Nachmittags geht es dann nur noch am Fluss entlang, eben besagter Noguera, die eine beeindruckende Schlucht bildet. Wegen aufkommenden Gewitters mache ich frühzeitig Feierabend in Sort. Im Fernsehen läuft ein Bericht, anscheinend ein Zugunglück bei Paris, mehr verstehe ich nicht. Die Schulter scheint das Schlimmste überstanden zu haben, ich kann den Arm wieder ein wenig anheben und auch gut im Zelt schlafen.
GaronneWeiter geht es das Tal hinauf, das irgendwann in die Pass-Straße zum Port de la Bonaigua übergeht. Landschaftlich ein mäßig interessanter Pass; im unteren Teil begradigt, nur weiter oben ein paar ganz nette Kehren.
Der Bonaigua liegt auf dem Pyrenäen-Hauptkamm. Die Grenze selbst kommt später - der oberste Abschnitt der Garonne bildet das Val d'Aran, was zu Spanien gehört. Genauer gesagt, zur Autonomen Region Katalonien. Noch genauer gesagt, zur einer okzitanisch-sprachigen Region innerhalb Kataloniens. Damit sich niemand verirrt, ist der nächste Pass dreisprachig als Portillon, Portilló und Portilhon ausgeschildert.
Was Mistwetter auf Okzitanisch heißt, weiß ich nicht, aber es regnet. Im Lebensmittelgeschäft von Luchon gibt es Milka nur im Familienpack, untrügliches Zeichen, dass ich zurück in Frankreich bin.
Abends geht es noch die Hälfte der Steigung zum Col de Peyresourde hinauf, Stop im Camping des Dorfs Garin. Dort gibt es nur eine Pizzeria, und die hat schon zu. Manchmal ist 'ne Familienpackung Schokolade halt doch nützlich.
TourmaletNachts regnet es, doch morgens ist es wieder schön. Als erster Radler des Tages bin ich am Peyresourde, zwei Minuten vor den ersten Rennern.
Im ersten Dorf wird eingekauft. An einer Zwischensteigung kommt ein Wachhund angewufft, wedelt ganz lieb mit dem Schwanz. Ach, die Wurst hat er gerochen. Nee, min Jung, Hunger hab ich selbst. Zweiter Pass des Tages ist der Col d'Aspin. Ein Auto überholt langsam, währenddessen die Beifahrerin meinen Bemühungen Beifall spendet. Sowas Nettes.
Die allerletzte Steigung der Reise steht bevor, der Mythos Tourmalet. Der Anfang behagt mir nicht, sehr unrhythmisch, viel Unruhe durch eine RTF, ein erster Regenguss. Auf halber Strecke eine Stele für Eugène Christophe. Ihr wisst schon, der sich die Gabel brach und sie unten in der Dorfschmiede selbst reparierte. Als die Tour de France noch Helden gebar. Und sein Zitat passt haargenau auf meine Stimmung: "Ich will, ich will ganz einfach. Der Wille ist meine einzige Droge."
Ja, ich will. Vergiss die Steigung, den Gegenwind, den Nieselregen, die Nebelsuppe, ich will jetzt diesen letzten Berg hoch. Tritt für Tritt zur Skisiedlung La Mongie, noch vier Kilometer, die Regentropfen werden dicker, dann prasselt es. "Nein", ruft es in mir, "Du kannst mich mal, ich fahr da jetzt hoch!" Als Antwort kracht ein Blitz direkt überm Pass. Auch'n Argument, ich stelle mich unter. Zählt Cola als Droge? Egal, ich nehm eine.
Nach 20 Minuten ist das Ärgste vorbei. Eine Schafherde traut dem Frieden noch nicht.
Gegenwind und Rückenwind im Rhythmus der Kehren, endlich, schon kurz nach sieben Uhr abends, begrüßt mich der "Riese" an der Passhöhe. Auch der schaut etwas erschöpft, dabei fährt er ohne Gepäck. Einer gewissen Rührung kann ich mich nicht erwehren, es geschafft und eine so schöne Reise erlebt zu haben.
Naja, fast geschafft - die Abfahrt ist penibel, zumal das Tal wenige Wochen zuvor von einer Flut verwüstet wurde, die die halbe Straße weggespült hat. Erst kurz nach 10 bin ich in Lourdes, kriege noch eine Pizza organisiert und treffe, pünktlich wie die Eisenbahn, fünf Minuten vor Abfahrt am Nachtzug ein.
EpilogPünktlich wie die Eisenbahn, ha ha. An dieser Stelle sollte eigentlich stehen, dass ich meine Liege bezog und frisch ausgeschlafen morgens in Paris aufwachte. Allein, das oben erwähnte Zugunglück bei Paris hat die Zufahrtsstrecke nach Austerlitz und damit sämtliche Nachtzüge lahmgelegt. Wir werden nach Toulouse gekarrt und können am Gleis stehend ein paar Stunden pennen.
Um halb sechs Weckappell, angeblich können wir den 6-Uhr-TGV nach Paris nehmen. Pustekuchen. Drei Tage haben wohl nicht ausgereicht, für angemeldete Fahrgäste mit Reservierung irgendwas zu organisieren. Anstellen am Schalter, wo ein einziger überforderter Bediensteter jedem einzeln eine neue Reservierung raussucht, ein neues Ticket ausdruckt und zehn Stempel irgendwo hinknallt. Bis ich dran bin, ist der 6-Uhr-Zug längst weg. Und mein Fahrrad, ach je, das kommt ja wie vom Himmel gefallen. Nein, eine Reservierung könne er dafür nicht machen, bitte mit dem 8-Uhr-Zug nach Bordeaux und dort einen TGV-Schaffner anbetteln, dass ich weiter nach Paris komme.
Naja, ich erspar Euch die weiteren Details, das ginge noch ein paar Absätze in dem Stil weiter. Sagen wir bloß, dass ich endlich am späten Nachmittag, verschwitzt, hundemüde und reichlich angefressen, in Paris bin, vom verlorenen Arbeitstag noch nicht zu reden. Die anstrengendste Etappe der Reise.
FazitIch bin glücklich und dankbar für diese Gelegenheit und den guten Ablauf der Reise. Es war anstrengend - Hitze, Hochgebirge, viel Gepäck und lange Tagesetappen aufgrund des von außen vorgegebenen Zeitrahmens, diese Kombination war für mich nur unter voller Ausnutzung des Tageslichts zu bewältigen. Dennoch blieb Zeit, Landschaft und Sehenswürdigkeiten zu genießen - abgesehen von der spanischen Küstenregion, die mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte.
Nicht zuletzt bleibt in Erinnerung die Aufmunterung, die ich namentlich in Italien und Frankreich allerorten erfuhr, von Wanderern, Radlern oder Motoristen gleichermaßen, die en passant nette Gesten oder Worte parat hatten. Das war große Klasse, danke Euch unbekannterweise.
Viele Grüße,
Stefan