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#1145786 - 25.07.15 23:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Montag, 16.2.2015: Von El Cuco/El Salvador nach Choluteca/Honduras

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Großes Bild in Link umgewandelt!

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Jeans Situation beschäftigte mich noch eine ganze Weile in der Nacht – ich frage mich, wie es denn sein muss, wenn die Partnerin in der Beziehung keine Perspektive für sich sieht.

Was treibt uns denn nach vorn, wenn nicht die Perspektiven, die Erwartungen für und an die Zukunft? Ja, wenn in einer wichtigen und wesentlichen Situation für uns keine Perspektive erkennbar ist und sich das auf das gesamte Leben auswirkt, dann müssen wir uns wieder Perspektiven verschaffen. Oder wir werden depressiv oder verzweifelt oder fatalistisch.

Und da hat Hermann Hesse dann Recht (und meine Mutter auch): Ein Ende ist immer auch ein Anfang, etwas Neues mit neuer Perspektive.

Jean und ich umarmen uns zum Abschied. Er ist der erste Franzose, den ich kenne und der richtig sympathisch ist. Das sage ich ihm. Er weiß, wie ich das meine. Vielleicht sehen wir uns wieder in La Union oder in Nicaragua.

Ich bin im Brutkasten Zentralamerikas. Aus meiner Haut dringt höchstens noch das Mineralsalz, das ich eigentlich dringend brauche. Ablecken kann ich’s nicht, weil ich mich mit Sonnenschutz eingecremt habe. Wieder fahre ich von Kiosk zu Kiosk, von Wasserstation zu Wasserstation.

El Salvador ist ein stolzes Land. Seine Bewohner sind stolz auf ihr Land. Und sie wissen, dass der Frieden, den sie haben, noch sehr jung ist. “El respeto al derecho ajeno es la paz” steht auf einem Bordstein. Der Respekt vor dem Recht des anderen ist Frieden. Benito Suarez hat das als ehemaliger mexikanischer Präsident und Freiheitskämper mal gesagt. Und dann die Erschießung des einzigen Kaisers von Mexiko persönlich angeordnet und überwacht.

Mir stellt sich bei solchen “Helden” und “Kämpfern für die Freiheit” wie Suarez oder Che Guevara oder auch Obama immer wieder die Frage, wann es gerechtfertigt ist, Menschen wissentlich und absichtlich zu töten – noch perfider: Töten zu lassen – und das als legitim und sogar legal zu verkaufen. Ist das Mord? Nein, Mord verlangt ja einen niederen Beweggrund. Und die Freiheit ist natürlich kein niederer Beweggrund. Also: Wenn ich im Namen der Freiheit töte, ist es kein Mord. Es ist – aus Sicht der Tötenden – ja sogar legal. Also kann es dann auch kein Totschlag sein.

Ja, was ist Töten im Namen der Freiheit denn dann, wenn es legal ist? Dann muss es wohl Notwehr sein. Wenn ich jemanden töte, der die Freiheit bedroht, dann handele ich also aus Notwehr.

Bleibt die offene Frage: Wessen Freiheit und überhaupt: Was ist das, Freiheit? Ist dieser Begriff überhaupt für alle Menschen auf dieser Welt mit einer einzigen Definition greifbar zu machen? Wenn ja, dann weiß jeder Mensch auf dieser Welt, wann er töten darf. Und weil er sich nur im Namen der Freiheit wehrt, muss er nicht mit Strafe rechnen.

Suarez den Kaiser, Guevara die Anhänger von Batista, Obama den Anführer von Al Quaida. Alles Notwehr. Alles legal. Alles für die Freiheit.

War Mexico danach freier? Kuba? Die USA?

Ich glaube, die Sonne kocht gerade mein Hirn im Kopf.

In La Union will ich mit irgendeinem Boot nach Honduras. Im Hafen findet gerade ein Fest statt. Ich frage nach einer Fähre. Es gibt keine, ich soll die Jungs auf den Lanchas fragen. Die Fischer sagen das typische “mañana, quizas” – morgen, vielleicht. Damit fahre ich wieder raus aus La Union, nehme den Landweg in Richtung Grenze.

Die restliche Fahrt durch El Salvador bis Honduras ist eher unspektakulär. Ich bin bald auf der Panamericana, die erstaunlich ruhig ist: Kaum Verkehr.

An der Grenze in El Amatillo fallen die Geldhändler wie die Fliegen über mich her. Tauschen? Superkurs! Hast Du noch Quetzales? Tausche gegen Lempiras! Dollares? Kein Problem! Superkurs! Ich bleibe freundlich und wehre alle und alles ab. Passe auf, dass mir niemand zu nahe kommt.

Ein junger Mann mit irgendeiner Karte um den Hals kommt auf mich zu und überreicht mir ein Einreise-Formular, das ich auszufüllen habe. Er sei ein Grenzpolizist, das Formular koste zehn Dollar. Ich lasse mich auf nix ein und erwidere, dass ich erstmal die Formalitäten der Ausreise aus El Salvador klären müsse, bevor ich in Honduras einreise.

Und da habe ich tatsächlich ein kleines Problem am offiziellen Schalter. Ich bin bei der Einreise von Guatemala nach El Salvador wohl an der Einreisekontrolle vorbeigefahren, habe wohl vergessen, mir einen Stempel in meinen Pass drucken zu lassen.

Ich erscheine der Frau hinter der Scheibe aber offensichtlich harmlos. Sie fragt mich, wann ich ungefähr eingereist wäre, drückt mir zwei Stempel in den Pass und winkt mich durch. Ich gehe zum offiziellen Honduras-Einreise-Büro, zahle drei Dollar – honduranische Lempiras nehmen die gar nicht an – für den Stempel, nicht für das Formular, und fahre dann weiter. Mit Stempel, ohne Lempiras.

Es ist jetzt vier Uhr nachmittags, bis Choluteca, dem nächsten Ort mit Hotel, sind es noch rund 35 hügelige und heiße Kilometer, mein Hirn ist durchgegart und hier fahren permanent irgendwelche Busse nach Choluteca. Ich frage den Fahrer eines wartenden Chicken-Busses – so heißen die alten ehemaligen US-Schulbusse hier – ob ich mit meinem Fahrrad einsteigen könne. Kein Problem, anders als in Guatemala oder in El Salvador. Der Fahrer steigt aus, öffnet die hintere Tür und hilft mir beim Reinschieben des Rades.

Ich selbst setze mich weiter vorn hin, nah beim Fahrer.

So langsam füllt sich der Bus mit Einheimischen. Ein junger Mann setzt sich neben mich und beginnt ein Gespräch. Nach dem üblichen Wokommstduher, Wasmachstduhier, Wowillstduhin, Woistdeinefamilie frage ich nach dem Land Honduras und seinen Verhältnissen. Ich habe ungute Nachrichten gelesen über diesen Staat, der nach Haiti der zweitärmste in Mittelamerika ist und in dem mit San Pedro Sula die Stadt mit der wahrscheinlich höchsten Mordrate pro Einwohner liegt.

Mein Sitznachbar schämt sich für sein Land, in dem Polizei und Militär extrem korrupt sind. Er erzählt von einem zweijährigen Mädchen aus Choluteca, unserem Fahrtziel, dem von Polizisten die Kehle durchgeschnitten wurde, weil sein Vater kein Schutzgeld zahlen konnte. Ich kann das nicht nachprüfen, aber komplett verwerfen kann ich den Gedanken an solch grausame Taten auch nicht.

In Choluteca suche ich ein Hotel, möglichst nah an der Bushaltestelle. Es ist mitlerweile dunkel und da will ich mich nicht weiter in der Stadt aufhalten. Wie üblich, kriege ich nur vage Beschreibungen über die Richtungen, in die ich fahren sollte. Ich fahre einfach zur Hauptstraße und schaue rechts und links nach Schildern. Mein Hotel ist diesmal zwar kein Stundenhotel, aber ein Fahrerhotel. Hier übernachten LKW-Fahrer, denen es in ihren Kabinen zu gefährlich ist. Ich beziehe ein Zimmer, mein Fahrrad stelle ich in einem Abstellraum ab, das mir der Hotelmanager zeigt. “¡No hay problemas con ladrones!” sagt der Manager, kein Problem mit Dieben hier. Etwas besorgt gehe ich ins Zimmer. Vorher frage ich noch, ob ich hier im Hotel etwas essen kann. Hier nicht, aber nebenan gibt es einen Comedor, eine Küche, die warmes Essen anbietet.

Nach der kalten Dusche – herrlich – gehe ich dann rüber. Der Comedor ist abgeschlossen, ein großes Gitter ist davor. Ich gehe zurück ins Hotel. Der Manager fragt mich, ob ich doch keine Lust hätte. Doch, antworte ich, aber es sei eben geschlossen. Er kommt mit mir mit und ruft einen Namen durch das Gitter. Eine ältere Frau erscheint, sie fragt er, ob es noch Essen gäbe. “¡Claro que sí!”

Mir wird aufgeschlossen, ich gehe in die Küche und setze mich an den großen Küchentisch. Werde gar nicht gefragt, was ich denn essen wolle, da es sowieso nur ein einziges Gericht gibt. Warum, weiß ich nicht, aber ich fühle mich vom ersten Moment an als würde ich in der großen Küche meiner Großmutter sitzen. “Junge, setz Dich erstema hin, denn krisste au was zu essen, damitte groß un stark wirs!”

Ich frage, ob es ein Bier gibt oder eine Kola – Nein, nur Wasser. Ist gut. Kurze Zeit später kommt eine jüngere Frau – so um die dreißig – in die Küche. Sie fängt sofort an, mit ihrer Mutter zu quatschen, begrüßt mich dann aber auch ganz freundlich. Wir kommen schnell ins Gespräch.

Margarita ist politisch sehr engagiert und arbeitet für eine Organisation, die Frauen hilft, die Gewalt in der Familie erfahren. Insbesondere die Ehemänner, die arbeitslos und perspektivlos sind, lassen ihre Wut und Verzweiflung häufig an den schwächsten Familienmitgliedern aus. Gewalt gegen Frauen ist in Honduras an der Tagesordnung. Wenn Frauen verschwinden oder gar getötet werden, interessiert das hier niemanden. Die Kinder werden dann von einer der Großmütter aufgezogen, Fragen nicht gestellt.

Mein Essen kommt. Es gibt – wie üblich – Reis mit schwarzen Bohnen und Rindfleisch. Lecker, aber ich kann mich gar nicht auf das Essen konzentrieren, bin gefesselt von dem Gespräch mit Margarita.

Sie muss extrem vorsichtig sein bei dem, was sie erzählt und vor allem, wem sie das erzählt. Politischer Widerstand wird im Keim erstickt in Honduras. Nirgendwo in Zentralamerika ist die Ungleichheit größer als hier, sagt sie. Es gibt wohl fünf Familien hier, in deren Händen Geld und Land liegen. Diese Familien steuern das Militär und den Politikbetrieb. Das Militär ist hier noch gefährlicher als die Polizei. Die Polizisten sind insofern korrupt, als sie selbst hin und wieder als Verbrecher, Räuber, Entführer oder Handlanger der Drogenmafia agieren. Das Militär hingegen läuft nicht wegen der Verbrecher oder fremder Mächte durch die Straßen sondern um Umsturztendenzen sofort zu erkennen und zu unterdrücken. Am schlimmsten sind die Militärs ohne Uniform. Sie spionieren das Volk aus und schicken dann ihre Kollegen in Uniform mit Waffen, um “aufzuräumen”.

Das Leben in Honduras ist schwer. Die Preise rennen davon, selbst wenn Geld vorhanden ist, muss das nicht heißen, dass es dafür etwas zu kaufen gibt. Wer etwas verkaufen will, muss vermehrt Schutzgelder zahlen. An die Jugendbanden, die Maras. Hier in Choluteca machen sie sich auch langsam breit, importiert aus Tegucigalpa und San Pedro Sula, der Hochburg der Drogenmafia hier in Honduras – wenn nicht in ganz Zentralamerika. Das Volk wird ungeduldig.

Man bräuchte jemanden wie Merkel. Die ist berühmt hier. Deutschland kommt extrem gut weg – in allen Ländern, in denen ich bisher war. Es fällt mir schwer, von unserer eigenen Korruption zu berichten, die bei uns nicht Korruption heißt sondern Lobbyismus und eine noch viel perfidere Art von Manipulation und Vetternwirtschaft darstellt als die offene Korruption.

Meistens gelingt mir das dann doch anhand der Beispiele, die ich ja selbst kenne – schließlich arbeite ich in der Energiewirtschaft. Da gibt es einen ehemaligen Ministerpräsidenten, der plötzlich Vorstand bei einem großen Baukonzern ist. Da gibt es einen ehemaligen Bundeskanzler, der seine Verbindungen zu Putin nutzt, um in irgendwelchen Gremien und Vorständen russischer Energiefirmen zu sitzen, die er vorher bereits als Bundeskanzler “wohlwollend” begleitet hat. Da gibt es einen ehemaligen grünen Außenminister, der lukrative Pöstchen bei BMW und Siemens hat. Da gibt es einen ehemaligen Kanzleramtsminister, der jetzt Bahnvorstand ist. Das alles ist abstoßend, diese Menschen erniedrigen sich letztlich selbst und machen sich und ihre ehemalige Sache klein.

Aber im Gegensatz zum honduranischen Volk hungert das deutsche Volk nicht und akzeptiert diese Maschen klaglos. Ein sattes Volk rebelliert eben nicht.

So kann ich diesen bewundernden, durch die eigene Situation verklärten Blick auf mein eigenes Land immer mal wieder klären und die moralische Differenz, die die Menschen hier gegenüber uns Deutschen fühlen, etwas verkleinern. Ich halte das für angemessen und zeige damit, dass es auch in Deutschland Menschen gibt, die politisch denken und nicht immer alles abnicken, was die Regierung und die Medien ihnen hinwerfen.

Margarita und ich verabreden uns für halb acht morgen zum Frühstück.

In der Nacht beißt mich eine dieser großen roten Ameisen tatsächlich genau in den Sack. Das tut höllisch weh, ich schrecke aus dem Schlaf und bin erstmal hellwach. Der Schmerz verfliegt schnell, aber die Sorge um eine Invasion der Riesenameisen begleitet mich in einen unruhigen Restschlaf.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.

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Geändert von Keine Ahnung (21.09.15 09:39)
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#1146694 - 30.07.15 06:13 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Dienstag und Mittwoch, 17./18.2.2015: Von Choluteca / Honduras über Chinandega / Nicaragua an die Laguna de Apoyo

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In der Nacht wache ich immer mal wieder durch irgend einen krähenden Hahn auf. Und die Angst vor weiteren Ameisenbissen macht die Nacht nicht ruhiger.

Gegen halb sieben stehe ich dann auch auf, das Leben hier findet schon seit rund einer Stunde statt. Es ist einfach nur heiß. Gestern schon den ganzen Tag, in der Nacht hat es sich kaum abgekühlt. Der Ventilator läuft die ganze Zeit auf höchster Stufe. Normalerweise dusche ich immer abends, aber an diesem Morgen verlangt mein Körper eine zusätzliche kühle Erfrischung.

Um halb acht gehe ich rüber in den Comedor, um ein Frühstück "con todo", also mit allem, zu bestellen. Nach rund 15 Minuten erhalte ich einen voll gepackten Teller mit einem Rinderschnitzel, einem Spiegelei, Bohnen, Reis, gebratenen Bananen und Tortillas. Dazu gibt es einen Riesenpott überzuckerten Kaffee. Da muss ich jetzt durch. Morgen früh esse ich Brot mit Marmelade!

Der Sohn der Inhaberin setzt sich zu mir und ist an meinem Fahrrad interessiert. Wie so viele Männer hier. Alle fragen immer bloß nach dem Preis. Dass man sein Auto verkaufen kann, um sich ein gutes Fahrrad zu kaufen, versteht hier niemand. Also sage ich immer, dass das Fahrrad ziemlich teuer ist, ich aber nicht weiß, was es momentan wert ist. Die genaue Preisangabe würde wohl zu großem Unverständnis führen. Lügen um des lieben Friedens Willen möchte ich aber auch nicht.

Ich will losfahren und merke, dass mein Leatherman fehlt, den ich in einer kleinen Ledertasche direkt am Fahrrad befestigt hatte. Das ist schlecht und beunruhigt mich, da er Teil meiner technischen Ausrüstung ist und ich die Werkzeuge häufig benötige. Außerdem hat er mich seit Alaska auf allen meinen Reisen begleitet und mir stets gute Dienste geleistet. Wahrscheinlich wurde das Teil gestern im Bus geklaut. Denn gestern Mittag habe ich damit noch eine Mango aufgeschnitten.

Ich fahre zu einer Ferreteria, einer Eisenwarenhandlung, die gleichzeitig auch ein Reparaturbetrieb für Motorräder ist. Erwarten tue ich allerdings nichts. Der Besitzer telefoniert gerade, ich warte ein paar Minuten und will gerade wieder wegfahren, als er das Telefon aus der Hand legt und mich fragt, was ich denn wolle. Ich frage nach einem "cuchillo por multi uso", einem Messer für vielfältigen Gebrauch, der Verkäufer geht in sein Büro und ich bin absolut erstaunt, als er mit einem Leatherman Wave zurückkommt. Ich frage, ob er dieses Werkzeug auch verkauft, er nickt kurz mit dem Kopf, nennt mir seinen Preis und ich sage ihm, dass er für mich heute das Glück sei. Wir diskutieren noch ein wenig über Länder und Diktaturen, er ist der erste Mensch hier in Lateinamerika, der mich auf Hitler anspricht. Wir sind beide der Meinung, dass es schwierig ist, als Teil der Bevölkerung eines Landes Verantwortung für das Handeln der Regierung des Landes zu übernehmen. Und dennoch kommt man als Bürger nicht darum herum.

Honduras ist das erste Land Zentralamerikas, dessen Bürger nicht stolz sind auf ihr Land, sondern es fürchten. Im Gespräch mit diesem Mann aus der Eisenwarenhandlung merke ich wieder, wie ohnmächtig sich die Bevölkerung den Militärs, der Polizei und den mächtigen Familien gegenüber fühlt. Denn das ist jedes Mal ein Thema, wenn ich länger als zwei Minuten mit jemandem aus diesem Land rede.

Auch wenn es immer wieder ganz liebenswerte Menschen gibt, denen ich begegne und mit denen ich rede: Die Gewalt, die sich von oben nach unten durchsetzt, kommt irgendwann unten bei der normalen Bevölkerung an und wird dort zur Normalität. Das merke ich hier, in Honduras, stärker als in El Salvador oder Guatemala. Nicht umsonst ist dieses Land das mit der höchsten Kriminalität und Mordrate der Welt.

Gegen Mittag erreichte ich die Grenze zu Nicaragua. An den zentralamerikanischen Landesgrenzen versammeln sich immer ganz viele Menschen, die meisten sicherlich mit ehrbaren Absichten, aber eben auch einige zwielichtige Gestalten. Daher bin ich immer sehr aufmerksam, wenn ich von Menschentrauben umringt werde, die mir entweder Cashewkerne verkaufen oder bei der "schnellen" Migration helfen wollen oder die Geld aus allen möglichen Währungen tauschen möchten. Aber auch hier funktioniert alles ohne Probleme.

Was mich heute noch stärker als gestern beschäftigt, ist die Hitze unterwegs. Ich habe ziemlich heftigen Gegenwind und das ist so, als wenn jemand einen riesengroßen Föhn auf höchster Luft- und Hitzestufe einschaltet. Ich glaube, meine Haut brennt und meine Kehle ist mit Sand bestreut. Mein Wasserbedarf steigt von normalerweise zwei bis drei Litern pro Tag auf sechs bis acht.

Die Umgebung hier hat etwas von einer Mondlandschaft. Ich sehe immer wieder hohe Vulkane um mich herum. Der San Cristobal begleitet mich den ganzen Tag, ich fahre dreiviertel um ihn herum.

In Chinandega endet mein bisher längster Radtag kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Ich suche ein kleines Hotel und bin überrascht, wie teuer Nicaragua ist. Hier kostet die Nacht 25 Dollar, wo ich doch in allen anderen Ländern bisher immer mit rund zehn Dollar, häufig auch weniger, auskam.

Egal, ich bin viel zu fertig, um hier irgendwie zu diskutieren oder etwas anderes zu suchen.

Am nächsten Morgen sehe ich erst so richtig, wie schön das Hotel ist. Es hat einen geruhsamen Garten fürs Frühstück, welches "a la cortesia" ist - freie Auswahl. Ich nehme nach der Fleisch-Bohnen-Reis-Erfahrung von gestern gerne zwei Scheiben ordinären Toast mit Butter, Marmelade und Kaffee. Den künstlichen Orangensaft, den sie mir hinstellen, tausche ich in einen weiteren Kaffee ein.

Eigentlich will ich die großen und vor allem die Hauptstädte meiner Reiseländer meiden. Doch heute bin ich absolut fertig und nehme nochmal einen Chicken-Bus, um rund 130 Kilometer zu überbrücken. Diese Busse hier fahren allerdings alle über und nach Managua, der Hauptstadt Nicaraguas. Die Fahrt dorthin dauert gut zwei Stunden und ist recht abenteuerlich. An jeder größeren Haltestelle kommen irgendwelche fliegenden Händler mit allen möglichen Waren in den Bus. Ich kaufe gerne immer mal ein wenig Obst von ihnen. Meistens sind es junge Kerle oder Mütter mit ihren Kindern, die hier ihren Lebensunterhalt verdienen.

Managua selbst ist aus meiner Sicht hässlich, dreckig und laut. Und es stinkt. Selbst die nicht restaurierten Teile Havannas haben wesentlich mehr Charme als die schönsten Viertel der Hauptstadt Nicaraguas. Im Lonely-Planet-Reiseführer steht, man solle sich auf die Stadt einlassen und mal drei Tage bleiben. No way for me! Niente, nada, nunca, no!

Ich brauche rund sechzehn Kilometer, bis ich draußen bin. Dann wird's schön. Nachdem ich die große Ausfallstraße verlasse und in die Berge abbiege, Richtung Laguna de Apoyo, fahre ich über ein idyllisches Landsträßchen mit wenig Verkehr und immer wieder kleineren Ananas-Plantagen. Hier fühle ich mich wohl. Die Plantagenbesitzer haben an der Straße Verkaufsstände aufgebaut, an denen ich dann und wann anhalte und frische Früchte esse. Sehr lecker. Ich kaufe ungesehen - besser: unprobiert - fermentierten Ananassaft, der mir als - mit Zucker und Wasser vermischt - wohlschmeckende Erfrischung ("Refresco") angepriesen wird. Am Ende ist das Essig, den ich wohl eins zu hundert verdünnen müsste, um ihn trinken zu können. Nun gibt es aber minimal nur einen halben Liter zu kaufen, also könnte ich fünfzig Liter Wasser mit einem Kilo Zucker zu Refresco veredeln, was ich allerdings nicht mit dem Fahrrad transportieren will. So kippe ich einen kleinen Schluck Essig in eine meiner Wasserflaschen, bereue das nach rund einer Stunde und stelle die angebrochene Essigflasche dann an den Straßenrand.

Es ist schon spät, ich will zu einem See, der hier ausgeschildert ist, um dort wild zu zelten. Auf der Abfahrt zum See treffe ich einen jungen Jogger, den ich frage, ob ich hier richtig bin. Der Mann rät mir dringendst davon ab, um diese Zeit dorthin zu fahren. Und als er erfährt, dass ich zelten möchte, empfiehlt er mir ein kleines Hotel im nächsten Dorf. Ich überlege nicht lange, drehe um und schiebe mit ihm den steilen Berg hoch, den ich eben noch runtergerollt bin.

Wir quatschen noch ein wenig über Nicaragua und die Kriminalität dort. Sie ist wohl nicht so hoch wie in Honduras, doch Honduras exportiert einen beträchtlichen Teil seiner Kriminalität in das südliche Nachbarland. So ist der See, an dem ich zelten wollte, ein beliebter Ausflugsort und abends treffen sich dann dort eben "mala gente", schlechte Leute, um die Gegend unsicher zu machen.

Kriminalität - immer wieder dieses Thema. Ich bin froh, bisher noch keine Erfahrungen damit gemacht zu haben (bis auf ein geklautes Werkzeug). Und ich hatte bisher auch noch nie den Eindruck, in einer gefährlichen Situation gewesen zu sein. Dennoch ist das Thema permanent um mich herum. Ich darf nicht den Fehler begehen, meine Vorsicht aufzugeben, nur weil ich so langsam glaube, dass die Leute ein wenig übertreiben und wohl gerne auch mal Geschichten erzählen. Nein - an allem mag wohl was dran sein. Auch Nicaragua hat eine Zeit heftigster Bürgerkriege hinter sich, und das ist gerade mal gut zwanzig Jahe her.

Nach einer viertel Stunde verabschiede ich mich von meinem Begleiter und folge seiner Empfehlung in das kleine Hotel in Masatepe.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.
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#1146869 - 30.07.15 20:59 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
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Sehr interessanter Bericht & gute Bilder.
Gewerblich: Autor und Lastenrad-Spedition, -verkauf, -verleih
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#1146998 - 31.07.15 19:34 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Donnerstag, 19.2.2015: Von Masatepe nach Granada

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Eigentlich will ich um sechs Uhr losfahren, aber mein Magen macht mir zu schaffen. Außerdem habe ich schlecht geschlafen, die Laster fahren fast durch’s Hotelzimmer. Und private Probleme aus der fernen Heimat sorgen für einen stetes Kopfkino.

Um sieben stehe ich dann doch auf, schmeiße eine Imodium ein und packe meine Sachen. Nützt ja nix, wie der Münsterländer so schön zu sagen pflegt.

Ich beschließe, heute nur rund 25 Kilometer bis Granada zu fahren und morgen dann weiter zur Isla Ometepe. Meine Nicaragua-Karte zeigt mir, dass ich von den Pueblos Blancos einfach auf die Hauptstraße abbiegen kann und dann direkt über einen kleinen Knick nach Granada gelange. Die Routingfunktion meines GPS schlägt mir allerdings einen Weg im Hinterland, direkt an der Laguna Apoyo entlang, vor. Ich bin skeptisch, schließlich hat mich bisher jede Routingfunktion irgendwann in eine Sackgasse, vor einen Bahndamm oder in militärisches Sperrgebiet gelotst. In Kuba endeten Lennart und ich schließlich im Gefängnis.

Aber warum nicht? Schließlich habe ich heute genügend Zeit für die paar Kilometer und selbst wenn ich 25 Kilometer schieben müsste, wäre ich in 5 Stunden in Granada.

Und siehe da: die Route ist zwar sehr holprig und staubig, aber es fahren weder Laster noch Autos hier. Hin und wieder kommt mir mal ein Tucktuck entgegen oder ein Ochsengespann oder Kinder auf ihren Farrädern. Ich habe stets wunderbare Blicke in die Lagune. Diese ist ein Kratersee, der rund 200 Meter unter mir die Sonne spiegelt. Leider ist es ziemlich diesig, so dass ich nicht so schöne Fotos schießen kann.

Und da ich gestern auf rund 500 Meter Höhe geklettert bin, geht es heute weitestgehend bergab. Also: Fahrradfahren kann ich auch. Aber das Material, die Arme, die Schultern und mein Kreuz werden ganz schön durchgerüttelt.

Gegen Mittag erreiche ich die älteste Kolonialstadt Zentralamerikas und suche mir ein Hostal in einem dieser alten Gebäude, das viele Zonen zum Chillen bietet. In einer Hängematte döse ich dann ziemlich schnell ein und werde erst am späten Nachmittag wieder wach.

In Granada selbst findet gerade eine Buchmesse statt. Ich schlendere auf die Plaza Central, stöbere ein wenig in den Regalen und bin überrascht, wie viele politische Bücher hier verlegt werden. Viele von ihnen setzen sich mit der gewalttätigen Vergangenheit dieses Landes auseinander. Nicaragua selbst hatte nie eine Chance, sich von den Interessen großen Mächte zu befreien. Beim Blättern in den Büchern erinnere ich mich wieder an viele Schlagworte aus den achtziger und neunziger Jahren. Die Geschichte der sandinistischen Bewegung, der Iran-Contra-Skandal unter Reagan, der Versuch der CIA, die nicaraguanischen Häfen zu verminen, die Somoza-Diktatur mit der Aneignung von Ländereien, so groß wie El Salvador. Aber auch die deutsche Geschichte wird beleuchtet: Wie konnte ein Familienmensch wie Himmler eine solch menschenverachtende Idee wie die “Endlösung” entwickeln und zur Umsetzung anweisen?

Ich glaube, ich unterschätze dieses Land und sehe es “nur” als Transit nach Costa Rica an. Nicaragua hat eine sehr lebendige Kunstszene, auch das zeigen die Bücher. Und es hat Natur, ist sehr dünn besiedelt. Die komplette Atlantikseite ist zum größten Teil unberührter Regenwald. Aber da kommt man nur per Schiff oder Flugzeug hin.

Vielleicht fahre ich dann nach dem Lago Nicaragua mal in Richtung Karibik, bevor ich nach Costa Rica einreise.

An meine kulturellen Eindrücken schließen sich noch einige soziale und kulinarische Eindrücke an. Ich habe Lust auf einen Kaffee und gehe ins Café de las Sonrisas, das Café der (verschiedenen Arten zu) Lächeln. Dieses Café wird von einer Organisation betrieben, die taubstummen Menschen eine Erwerbsarbeit ermöglicht. Hier wird neben dem Cafébetrieb auch produziert. Hängematten, Sitzkissen und Decken stellen die zumeist jungen Leute her. Im Café selbst sind die wichtigsten Gebärdensprach-Gesten an die Wand gemalt. Sie reichen aus, um zu zeigen, wie man aus der Speise- und Getränkekarte des Cafés bestellt, die Rechnung ordert und Höflichkeiten ausdrücken kann. Es wird ausdrücklich darum gebeten, sich vor der Bestellung mit der Gebärdensprache auseinanderzusetzen. Und die einfachste Geste ist ein Lächeln. Daher der Name des Cafés.

Ich versuche es mit einem normalen gebrühten Nicaragua-Kaffee in Gebärdensprache und bin gespannt, was ich nun kriege.

Es hat funktioniert, vor mir duftet eine Tasse schwarzen Kaffees mit wunderbar kräftigem Aroma.

In einer der selbst gemachten Hängematten liege ich nun und lese noch ein wenig im Reiseführer. Am liebsten würde ich gern ein wenig wegdösen, aber dazu ist es schon zu spät, das Café schließt gleich.

Auf dem Rückweg zum Hostal begegnet mir ein Trauerzug. Ohje, allein die Musik macht mich traurig – egal, wer da gestorben ist. Das nenne ich mal stilvolle Beerdigung. Eine Leichenkutsche mit Trauerzug hinten dran, angeführt von einer Kapelle mit Jungs, die so spielen, dass man nicht weiß, ob die Musik jetzt so gespielt werden muss, wie sie gespielt wird, damit sie traurig klingt oder ob sie so verzweifelt gespielt wird, dass sie so traurig klingt, wie sie eigentlich gar nicht klingen sollte, da das ganze eigentlich gar keine Trauermusik ist. Am Ende ist das unwichtig und einfach nur Trauer.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.

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#1147480 - 04.08.15 09:20 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
grenzenlos
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Beiträge: 906
Hallo,
macht echt Freude. Danke fürs Teilen schmunzel
Freue mich auf die Fortsetzungen.
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#1148086 - 06.08.15 09:55 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: grenzenlos]
joeyyy
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Beiträge: 999
...gleichfalls schmunzel

Verfolge Euren Bericht in den Outdoorseiten auch ganz gespannt.

Gruß

Jörg.
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#1155403 - 06.09.15 14:26 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag/Samstag, 20./21.2.2015: Von Granada zur Isla Ometepe und Ruhetag am Vulkan

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Die ganze Stadt wird von einer Blasmusik-Kapelle geweckt. Fehlende Präzision beim Ansatz und beim Treffen der Töne machen die Spieler durch Engagement und Pustekraft wieder wett. Sie marschieren direkt unter dem Fenster meines Dormitorios entlang. Und Fenster haben hier in Granada keine Glasscheiben oder irgendeinen nennenswerten schallisolierenden Effekt.

Und durch dieses Fenster fällt kein einziger Lichtstrahl, das heißt: Es kann nicht mal halb sechs sein. Nach rund einer halben Stunde schlafe ich wieder ein. Vorher schalte ich noch den Wecker aus, Schlaf ist wichtiger als früh los kommen.

Zum Frühstück bestelle ich mir wieder einfach nur Toast, Butter und Marmelade. Und natürlich den obligatorischen Kaffee. Es ist soweit: Ich kann diese Bohnenpampe, Rühreier mit Schinken oder Fleisch und gebackene Bananen nicht mehr sehen.

Das frühe Granada mit seiner klaren Morgenluft lädt die Augen viel eher zum Schauen und Staunen ein als das diesige, heiße Nachmittags-Granada. So bleibe ich dann auch noch oft stehen und fotografiere ein wenig bevor ich die Stadt in Richtung Süden verlasse.

Stadtauswärts geht es zunächst bergauf. Um Kräfte zu sparen und meiner Orthopädie ein wenig Abwechslung zu gönnen, schiebe ich, und um im Schatten zu schieben, wechsel ich die Straßenseite. Mir kommt ein Amerikaner auf einem alten Mountainbike entgegen, der anhält. “Why are you walking?” schlägt es mir in breitem texanischen Dialekt völlig naiv entgegen. “Because I’m long time travelling, not racing for a today’s goal.” Seine Augen haben jetzt etwas von dieser Sanduhr, die bei Windows immer läuft, wenn der Computer denkt. “And why are you walking on this side of the street?” kommt gleich der nächste Klopfer. Sesamstraße wirkt: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Ich anerkenne das ehrliche Interesse und antworte ernst: “Because the sun shines, it’s exhaustingly hot and the shadow is on this side!” Diesmal läuft die Sanduhr nicht so lange. Ich warte auf die Standardfrage der Amis nach dem Grund, zu radeln, wo es doch Autos und Busse gibt. Die bleibt aus, vielleicht weil er selbst gerade radelt – aber selbst das ist für einen echten Ami kein Grund, Reiseradler zu verstehen. Der Typ hat was von Lance Armstrong in seiner Art und seinem Aussehen. Ich bin immer wieder erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit die US-Amerikaner die Menschen hier einfach so auf englisch ansprechen, unterstellend, dass jeder englisch spricht. Aber auch ansonsten kommen die Cowboys und -girls aus dem stärksten Land der Welt überhaupt nicht gut weg bei mir, hier in Zentralamerika. Mir geht dieser Kaugummislang, der mir allerorten ins Ohr kriecht, langsam auf den Geist.

Der Transitverkehr ist auf der Straße, die ich heute nehme, sehr dicht. Die großen Trucks können einem schon Angst einflößen. Sie donnern mit hoher Geschwindigkeit und kaum nennenswertem Abstand an mir vorbei, es gibt nur eine Fahrspur pro Richtung und keinen Seitenstreifen. Wenn sich also zwei Laster auf meiner Höhe treffen, wird es eng für mich. Und bremsen oder Geschwindigkeit reduzieren will hier keiner. An einer Baustelle, die die Gegenfahrspur absperrt, kommt mir so ein großes Ding auf meiner Spur entgegen. Der Fahrer hupt nur mal kurz, nimmt ansonsten aber keine Rücksicht. Ich frage mich, warum hier so wenig passiert. Ich muss jedenfalls höchst aufmerksam bleiben, darf mir keine Ablenkung vom Verkehr erlauben.

Ich überlege ernsthaft, die Panamericana in Südamerika mit meiner alten 75/5 zu fahren – das ist wohl wesentlich sicherer als mit dem Fahrrad. Aber… Nee. Höchstens, wenn die Beine nicht mehr wollen.

In einer Bar will ich was Kühles trinken, treffe drei Reiseradler aus Montreal, Kanada. Vater, Mutter, Tochter. Die Eltern sind in etwa in meinem Alter, die Tochter ist irgendwo zwischen 20 und 25.

Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn sich nicht ein gutes Gespräch entwickeln würde. Die Alten sind trotz ihres jungen Alters bereits in Rente und erfreuen sich ihres Reichtums, den sie während ihres Berufslebens angehäuft haben. Sie wirken überhaupt nicht arrogant, machen das, was ich an ihrer Stelle vielleicht auch machen würde. Waren letztes Jahr für sechs Monate mit den Rädern unterwegs, von Istanbul bis Amsterdam.

Wir sprechen über die Skepsis, die sie selbst haben, da durch ihre freie Wahl, machen zu können, was sie wollen, die eigentliche Vorfreude fort ist. Es ist wie mit den Jahreszeiten: wenn man den Frühling und den Sommer mag, dann doch genau deshalb, weil man den Herbst und den Winter ebenfalls erlebt, vielleicht sogar erleidet. Wenn man permanent im Frühling oder Sommer lebt, verlieren diese besonderen Jahreszeiten irgendwann ihren Wert.

Das Besondere kann ohne das Gewöhnliche nun mal nicht sein.

Nach dem Gespräch denke ich noch weiter. Ich frage mich, was es mit mir machen würde, wenn ich für meinen Lebenserwerb nicht mehr arbeiten müsste. Würde ich dann wirklich nicht mehr arbeiten? Ich würde sicherlich arbeiten, vielleicht nicht für meinen Erwerb. Aber selbst das wäre ein gänzlich anderes Gefühl, als das, arbeiten zu müssen. Wenn ich all meine Obligationen aus meinem eigenen vorhandenen Kapital bedienen könnte, könnte ich mir dann freie Zeit nehmen, wenn ich sie bräuchte. Ich müsste nicht dafür kämpfen, ich müsste sie mir nicht einteilen, ich müsste nicht dafür bezahlen. Freie Zeit wäre kein knappes Gut mehr. Und Güter sind umso wertvoller, je knapper sie sind. Also hat freie Zeit, wenn sie denn im Überfluss vorhanden ist, keinen Wert. Ich müsste freie Zeit künstlich rationieren, um ihr wieder einen einigermaßen angemessenen Wert zu geben.

Außerdem wird, wer nicht mehr kämpfen muss oder sich nichts einteilen muss, schnell müde und dekadent. Auch das ist für mich kein erstrebenswerter Zustand.

Auf der Höhe der Isla Ometepe biege ich links ab, Richtung Fähre zur Insel. Diese erwische ich gerade noch so im letzten Moment.

Mein Fahrrad kommt einfach mit an Deck, ich lehne es zunächst an ein Geländer. Der Wind ist extrem heftig heute, der See aufgerauht wie die Ost- oder Nordsee. Das bringt die Fähre zum Schaukeln. Glücklicherweise habe ich keine Probleme mit der Seekrankheit.

Mein Fahrrad fällt um, ich lasse es liegen, da es wohl wieder umfallen würde, wenn ich es hinstellen würde. Der Kahn schaukelt extrem. Immer wieder spritzt uns die Gischt nass, einige Leute fangen bereits an zu frieren. Die näher kommende Insel gibt ein bedrohliches Bild ab. Die Gipfel der Vulkane sind in dunkle Wolken gehüllt, man könnte meinen, es sei Rauch und sie würden gleich beginnen Feuer zu spucken.

Immer wieder muss der Kapitän der Fähre beidrehen und seine Richtung verlassen, um den Rumpf senkrecht zur Fließrichtung der Wellen zu stellen. Das lässt uns zwar extrem längswärts schaukeln, verhindert aber das Kentern.

Auf der Insel suche ich mir ein Hostal gleich im nächsten Ort, es regnet ein wenig bei meiner Ankunft. Eigentlich wollte ich noch rund dreißig Kilometer fahren, um den Top-Spot des Lonely Planet anzusteuern. Aber das schenke ich mir, am Ende ist es mir egal, wo ich meinen Ruhetag verbringe. Mein Hostal wird von einer Kooperative indigener Nicaraguaner betrieben, die von dort aus auch ihrer Landwirtschaft und Imkerei nachgehen.

Ich belege ein Einzelzimmer und kann mein Fahrrad mit aufs Zimmer nehmen. Das passt mir gut.

Nach dem Waschen meiner Wäsche in der Waschküche döse ich noch ein wenig in einer Hängematte im Hostal-Garten und gehe dann auch bald ins Bett.

Der nächste Tag ist ein Ruhetag auf der Insel und er ist – entgegen meiner ursprünglichen Planung – ein echter Ruhetag. Ich hänge den ganzen Tag einfach nur ab, gehe nur abends mal kurz an den kaum vorhandenen Hafen, um zu schauen, wann meine Fähre morgen fährt.

Ich lerne ein wenig Spanisch und Epistemologie. Schließlich will ich ja wissen, was ich weiß und wie und warum.

So ist der Tag zumindest gefühlt alibimäßig produktiv. Und selbst wenn nicht: Mañana entonces, dann eben morgen.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.
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#1155669 - 07.09.15 13:14 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Gangwechsler
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Hallo Jörg,
mit dem Foto in schwarz/weiß hast du die bedrohliche Überfahrt sehr gut in Szene gesetzt!
Gruß Roland
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#1155933 - 08.09.15 17:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: Gangwechsler]
joeyyy
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In Antwort auf: Gangwechsler
Hallo Jörg,
mit dem Foto in schwarz/weiß hast du die bedrohliche Überfahrt sehr gut in Szene gesetzt!


Danke!

Es war auch eine abwechslungsreiche Überfahrt. Einige Backpacker/innen waren ziemlich bleich im Gesicht, als wir auf der Insel ankamen.

Die beiden Ometepe-Vulkane waren aber auch dankbare Motive. Ich habe locker 15 bis 20 Bilder gemacht (dabei ist wichtig, zu wissen, dass ich genau so fotografiere, wie ich das zu Zeiten der 36er Filme gemacht habe - also sparsam und mit vorheriger Überlegung).

Gruß

Jörg.
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#1155947 - 08.09.15 18:04 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
panta-rhei
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Hey Joeyyy,



Lese eigentlich selten hier die Reiseberichte.

In Antwort auf: joeyyy
Besten Dank für's Lob, lese ich gern schmunzel


Aber Deiner sticht heraus, Dein Erleben, Fühlen, Nachdenken - finde mich da sehr wieder, wenn ich an meine längeren Reisen ausserhalb Europas denke.

Gerade der Salvadorteil. Wird ja nicht sooo oft bereist. Filmvorschlag: "Salvador" von Oliver Stone. Bin selbst oft da gewesen (leider ohne Rad) ... und kein einziger KM-Stand, Höhenmeterwert etc... zwinker ...tstststs.

Macht voll Lust!

Geh jetzt meine Hinterradschwinge fertiglöten, sonst werde ich ganz verrückt hier ...
Liebe Grüsse - Panta Rhei
"Leben wie ein Baum, einzeln und frei doch brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Nâzim Hikmet, Dâvet
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#1156069 - 09.09.15 08:18 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: panta-rhei]
joeyyy
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Oha, das macht mich verlegen und ich freue mich wirklich. Den Film von Oliver Stone kenne ich noch nicht, werde ihn mir aber besorgen und anschauen. Danke für den Tipp.

El Salvador hat mich aber auch nachhaltig positiv beeindruckt.

Gruß

Jörg.
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Off-topic #1156275 - 09.09.15 20:12 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
panta-rhei
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Unterwegs in Französische Südpolar-Territorien

In Antwort auf: joeyyy
Den Film von Oliver Stone kenne ich noch nicht, werde ihn mir aber besorgen und anschauen.


Ein wenig bekanntes Meisterwerk - Stones völliger Kassenflopp. Liefert viel zum Verständnis der heutigen Situation im Lande und exemplarisch auch der in den Nachbarländern.

Und der "Major Max" des Films (AKA "Major Bob" = Roberto D'Aubisson, Gründer eines der Todesschwadrone der 80er) hat auch heute noch ein riesiges Denkmal im Villenvorort der Hauptstadt ... weinend
Liebe Grüsse - Panta Rhei
"Leben wie ein Baum, einzeln und frei doch brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Nâzim Hikmet, Dâvet
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#1159273 - 20.09.15 20:57 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Sonntag, 22.2.2015: Von der Isla Ometepe in Nicaragua nach La Cruz in Costa Rica

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Großes Bild in Link umgewandelt!

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Der Ruhetag auf der Insel hat gut getan. Vor allem auch das etwas kühlere Wetter und der frische Wind. So schwinge ich mich auf mein Rad und fahre runter zum Hafen. Vorher kaufe ich noch ein Glas Honig, der von der hiesigen Kooperative geschleudert wurde.

Die Fähre schaukelt heute weniger heftig als vorgestern. Dafür sind die beiden Kapitäne umso heftiger. Die Metall-Silhouette einer sparsam bekleideten Frau winkt ihnen vom Fenster der Kapitänskajüte aus im Takt der Wellen zu. Dieses Winken scheint zu hypnotisieren, jedenfalls haben sich die beiden Jungs während der knapp einstündigen Überfahrt locker zwei mal abgewechselt, damit immer einer auch schlafen und von winkenden Schönheiten träumen konnte.

In San Jorge auf dem Festland fahre ich in eine Demonstration. Die Menschen haben einen Marsch gegen den Kanal organisiert, das vorherrschende politische Thema hier in Nicaragua. Das Thema der Proteste steht auf den Fahnen und Banderolen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist, will ich erfragen.

Mein Fahrrad stelle ich auf der Hauptstraße an eine Hauswand, schließe es ab und gehe mit der Kamera los, um ein paar Fotos zu schießen. Einige Leute glauben, dass ich ein Gringo-Reporter sei und kommen gleich auf mich zu, um mir Antworten auf Fragen zu geben, die ich gar nicht gestellt habe. Na, egal, ich behaupte weder die Bestätigung ihrer Annahme noch das Gegenteil und höre einfach zu.

Es ist das Standardproblem der zentralamerikanischen Länder: Korruption und Vetternwirtschaft. So wirklich gebraucht wird ein zweiter Kanal zwischen Atlantik und Pazifik nicht. Aber er verspricht viel Geld. Viel Geld beim Bau und viel Geld im Betrieb. Und als Kosten des Kanals werden ausschließlich die ökonomischen Zahlen gesehen. Und nur die sind zu zahlen und den Erträgen gegenüberzustellen. So bewerten es die Politiker, die Geschäftsleute und die Großgrundbesitzer. Aber es gibt noch Kosten und Schäden, die unberücksichtigt bleiben, weil sie sich dem beschränkten Wahrnehmungspotenzial der Menschen entziehen. Die Umweltschäden durch Artensterben, Waldrodung und das Kippen einiger ökologischer Gleichgewichte ahnen und prognostizieren die Menschen hier. Aber sie werden auf keiner Investitionsrechnung auftauchen.

Das Enteignen und Umsiedeln indigener Bevölkerungsgruppen ruft den emotionalsten Impuls im Widerstand hervor. Die Menschen hier wissen, wie mies und gewalttätig es zum Beispiel in Guatemala lief. Auch diese Faktoren werden auf keiner Investitionsrechnung auftauchen. Schließlich ist das Enteignungsgesetz zum Bau des Kanals bereits seit 1999 in Kraft und es gibt auch schon die ersten Vertriebenen und Toten drüben, an der dünn besiedelten Atlantikküste. Eine Frau sagt mir, dass dort im Regenwald private Schutzdienste unterwegs seien und die indigenen Völker vertrieben. Die Baufirmen, die eingesetzt werden sollen, gehören Politikern aus dem Parlament von Managua.

Mir fällt auf, dass einige Priester vorn in der ersten Reihe mitmarschieren. Zentralamerika ist sehr gläubig, hängt dem katholisch geprägten Christentum an. Wahrscheinlich wird allerdings auch in Nicaragua gelten: Geld ist wichtiger als Glauben.

Ich lasse mir die Gedanken an den Kanal noch länger durch den Kopf gehen, fahre an gegen den Wind und die Hitze, die aus dem jetzt nahen Costa Rica kommen. Der Wind kann in dieser Gegend wohl stark genug werden, um Rotoren von Windrädern abzubrechen.

Am Rand des Sees entlang fahrend sehe ich immer wieder auf’s Wasser und stelle mir vor, jetzt dort zu baden. An einer Einfahrt zum Strand biege ich links ab, lege mein Rad in den Sand und laufe in den See. Er ist kälter als gedacht. Frischer als vorgesehen. Mir ist das egal, die Sonne wird meine Sachen in Nullkommanix trocknen.

Zwei Jungs in der Nähe wollen Fische fangen. Einer wirft Steine ins Wasser, der andere schaut, ob sich was bewegt und taucht hin und wieder ab. Ich frage die beiden, ob sie auf diese Weise schon mal einen Fisch gefangen hätten. Der eine sagt nein, der andere ja. Für heute sind sie guten Mutes.

Einen Fisch haben sie zwar nicht, dafür einen Hund. Die Geier, meine ich. Für mich ist es spannend, zu sehen, wie diese Vögel in ihre Nahrung hineinhüpfen und die toten Tiere dann aushöhlen.

Costa Rica bietet sofort nach dem Grenzübergang ein komplett anderes Landschaftsbild. Ich bin plötzlich im Regenwald unterwegs, die Panamericana ist nur noch ein kleines Sträßchen mit wenig Verkehr. Der Stau auf der nicaraguanischen Seite war ziemlich lang, weil alle LKW abgespritzt werden müssen. Und mit der Seelenruhe, mit der die Zöllner an der Arbeit sind, schaffen die höchstens zehn Laster pro Stunde. Entsprechend ruhig ist hier der Verkehr. Und – was ganz besonders angenehm ist – es liegt kein Müll rum. Das fällt sofort auf. Weder im Wald noch in den kleinen Orten, durch die ich fahre.

Allerdings merke ich gleich am ersten Kiosk, an dem ich mal wieder eine Kola trinken möchte, dass Costa Rica teuer ist. Sehr teuer. Mindestens drei bis viermal so teuer wie Guatemala oder Honduras. Mindestens so teuer wie Europa.

Und Costa Rica ist windig. Noch windiger als Nicaragua.

Gegen fünf Uhr nachmittags komme ich durch den ersten größeren Ort, La Cruz. Ich biege ab, Richtung Osten, Richtung Santa Cecilia. Der Wind ist nun brachial. Das schaffe ich nicht, denke ich – keine zehn Kilometer. Den ganzen Tag bin ich unterwegs, Hitze und Wind haben gezehrt. In einer Stunde wird es dunkel und mein Wasser reicht nicht für Essen, Trinken und Waschen, wenn ich heute irgendwo wild zelte. Außerdem bezweifel ich, dass ich bei dem Wind eine ruhige Nacht hätte. Ich drehe um und fahre wieder zurück nach Santa Cruz. Hostal y Restaurante Punta Descartes. Das ist ein sehr sympathisches Schild. Cogito, ergo sum. Genauso wie Descartes zweifelte, habe ich gezweifelt und nun die Antwort gefunden. Im Hostal Descartes. Danke, alter Franzose.

Mit dem Eigentümer werde ich schnell handelseinig, mein Rad kommt in die Garage und ich dusche mich in meinem Zimmer.

Der Mirador – der Aussichtspunkt – von der Terasse des Hostals ist genial. Der Pazifik liegt mir zu Füßen, die Sonne geht in ihm unter. Außerdem spielen zwei Musiker irgendwas, was zum Land und den Leuten passt. Als Essen ordere ich Fisch, dazu eine Flasche kaltes Bier. Das hab ich mir heute verdient. Lecker, lecker, teuer. 40 Dollar auf der Rechnung überraschen mich ein wenig, aber das Essen ist es wert.

Ein mexikanischer Fotograf erkennt, dass mein T-Shirt mexikanischen Ursprungs ist und setzt sich zu mir. Er ist so ein Rasta-Typ und schon ziemlich angeheitert. Ob durch Alkohol oder durch Ganja, kann ich nicht sagen. Der Schlüssel zum Frieden liegt im Zuhören. Sagt er. Und redet und redet und redet. Und schläft irgendwann am Tisch ein.

Ich lasse die Rechnung aufs Zimmer buchen und gehe dann auch ziemlich müde ins Bett.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.

Geändert von Keine Ahnung (21.09.15 09:40)
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#1159338 - 21.09.15 13:21 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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In Antwort auf: joeyyy
Großes Bild in Link umgewandelt!


...sorry. Hier die kleine Version und eines zusätzlich:





Gruß

Jörg.
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#1159343 - 21.09.15 13:41 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Keine Ahnung
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Wie ich schon geschrieben hatte, gefällt mir der Bericht wirklich gut. Die Bilder sind auch toll (und nun alle in korrekter Größe zwinker ).
Gruß, Arnulf

"Ein Leben ohne Radfahren ist möglich, aber sinnlos" (frei nach Loriot)
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#1166174 - 21.10.15 09:24 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
:-)
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In Antwort auf: joeyyy

Hier ist zur Info meine grobe Reiseroute:

Link zu Karte: Karte



Hallo Jörg,

tolle Tour, faszinierende Bilder! Besten Dank für die Mühe hier deine Reiseberichte zu teilen.

Der Link zur Karte funktioniert leider nicht :-(

Gruß
Jörg
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#1166976 - 23.10.15 20:15 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: :-)]
joeyyy
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In Antwort auf: :-)
In Antwort auf: joeyyy

Hier ist zur Info meine grobe Reiseroute:

Link zu Karte: Karte



Hallo Jörg,

tolle Tour, faszinierende Bilder! Besten Dank für die Mühe hier deine Reiseberichte zu teilen.

Der Link zur Karte funktioniert leider nicht :-(

Gruß
Jörg


...danke, gern geschehen. Eure Kommentare ermutigen mich ja auch mit, weiter zu schreiben und da auch ein wenig Zeit und Kreativität zu investieren.

Versuch's mal mit dem Link [klick] hier. Habe wohl irgendwie die Bilder umgeschichtet und kann den Beitrag jetzt nicht mehr ändern.

Gruß

Jörg.
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#1166977 - 23.10.15 20:16 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Montag, 23.2.2015: Von La Cruz zur Laguna Arenal - oder: Wie Russen in Costa Rica Geld verdienen

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Um acht Sitze ich wieder am Mirador, genieße die Aussicht und bestelle mir mein Frühstück. Toast mit Marmelade, schwarzen Kaffee. Etwas anderes will ich nicht mehr haben.

Um kurz nach acht setzen sich die beiden Musiker von gestern abend zu mir, wir frühstücken zusammen und quatschen bis halb elf. Über Großmütter und die Arbeit auf dem Lande, Musik, René Descartes, das Leben in Costa Rica. Wir sind uns sympathisch, ich freue mich immer, wenn ich Menschen kennen lerne, die relativ schnell meine Freunde sein könnten. Warum klappt so etwas immer nur auf Reisen? Warum nicht auch zu Hause?

Ich will weiter, ins Landesinnere, nach Upala. Rund 5 Kilometer folge ich noch der Panamericana, dann biege ich geradewegs in Richtung Osten ab. Der Wind, der gestern Abend das ganze Haus durchgerüttelt hat, hat sich kaum abgeschwächt. Auf dem Weg in Richtung Osten muss ich gegen ihn ankämpfen. Selbst bergab fahre ich mit einstelliger Tachozahl. Auf gerader Strecke muss ich schieben. Ich sehe auf der Karte, dass es bis Upala noch rund 80 Kilometer sind. Nach rund 5 Kilometer aussichtslosem Kampf drehe ich wieder um. Entweder fahre ich hier per Anhalter in Richtung Osten oder ich nehme mit dem Fahrrad die Panamericana, die etwas mehr windgeschützt zu sein scheint.

Der Name dieser Region hier wurde von der Urbevölkerung übernommen. Er bedeutet Land des Windes und des Regens. Ein Tico an der Straße erklärt mir, dass hinter Upala der Wind wohl schwächer werden sollte. Aber so richtig weiß man das nicht, da der Wind durch die Vulkane beeinflusst wird. Und welcher der Vulkane den Wind gerade beeinflusst, weiß man eben auch nicht. Und eigentlich sei der Wind heute doch gar nicht so schlimm.

Ich drehe um und halte bei jedem Pickup, der vorbeifährt, den Daumen raus. Es hält keiner an. Gegen zwölf bin ich wieder an der Kreuzung der Straße ins Landesinnere und der Panamericana. Der Bus nach Upala hält gerade, ich frage den Fahrer, ob ich mein Fahrrad mitnehmen könne. Der verneint, verweist auf einen Bus später, von dem er aber nicht wisse, wann er fahre. An der Kreuzung selbst findet gerade eine Polizeikontrolle statt, die blau Uniformierten halten Laster und Busse an, um Pässe zu prüfen. Ein Polizist steigt gerade in einen der großen Busse ein, der nach Cañas fährt. Ich schaue kurz auf meine Karte, radel schnell zum Bus, frage den Busfahrer ob ich mein Fahrrad mitnehmen könne, der grummelt ein wenig, steigt dann aber aus, öffnet den Kofferraum und ich kann mein Fahrrad dort einfach rein schieben. Ich drücke dem Fahrer zehn Dollar in die Hand, gehe nach hinten durch und setze mich auf einen freien Platz. Erleichtert schaue ich aus dem Fenster und beobachte die ziehenden Wolken über den Vulkanen.

Costa Rica wollte ich eigentlich komplett mit dem Fahrrad durchfahren, schließlich sind noch gut zweieinhalb Wochen Zeit bis der Flieger nach Hause geht. Aber für diesen Wunsch habe ich einfach und schlicht die falsche Richtung gewählt. Von Nordwesten nach Südosten muss ich meine durchschnittlichen Tagesetappen durch drei teilen, um in etwa kalkulieren zu können. Das ist extrem frustrierend und außerdem schaffe ich dann meine Tour nicht bis Panama. Also rede ich mir ein gutes Gewissen ein, wenn ich mit dem Bus fahre.

Gegen halb drei bin ich dann in Cañas. Mein Garmin lotst mich aus dem Ort heraus, über kleine Sträßchen in Richtung Laguna de Arenal. Es sind nur noch 22 Kilometer und dafür habe ich knapp drei Stunden Zeit. Das sollte machbar sein. Aus dem Ort heraus fahre ich zunächst in Richtung Norden, dann nach Osten. Und bergauf. Frustriert und gern pauschalierend denke ich: Es ist letztlich egal, in welche Richtung ich fahre, der Wind bläst immer von vorn und es geht immer bergauf. Die Vulkane sind heute gegen mich. Nicht nur heute, sondern eigentlich die ganze Zeit schon. Um halb fünf schaue ich dann auf meinen Tacho, ich habe in zwei Stunden immerhin 10,5 Kilometer geschafft. Stundenmittel: 5,25 Kilometer.

Den See kann ich mir heute als Tagesziel abschminken. Ich stelle mein Fahrrad an den Straßenrand, pinkle in die Botanik und gönne mir dann etwas Salz mit Wasser aus der Flasche. Während ich so mit mir beschäftigt bin, kommt ein Pickup rückwärts zu mir gefahren. Der Fahrer fragt, ob er mich mitnehmen könne und wo ich denn hin wolle. Wir einigen uns auf den See als Ziel, er steigt aus, öffnet die Heckklappe, innerhalb von fünf Sekunden habe ich das Gepäck vom Fahrrad genommen und innerhalb von zehn Sekunden liegt das Fahrrad samt Gepäckstaschen auf der Ladefläche des kleinen Lasters.

Im Innenraum sitzen schon die Frau von Wilbert und sein Sohn.

Die Familie wohnt in einem kleinen Dorf am See und ist gerade auf dem Heimweg. Sie haben aus Mitleid angehalten, weil sie wissen, wie brutal die Sonne heute scheint und der Wind weht. Mitleid gibt es zwar umsonst, aber da die Fahrradeinheit Costa Ricas sowieso schon im Eimer ist, halte ich das Mitleid gerne mal aus und bin unterwegs sehr froh darüber. Es geht wirklich steil bergauf, den Wind merke ich nicht im Auto. Ich komme mit der Familie ins Gespräch. Sie laden mich auf einen Kaffee in ihr Haus ein, leider ist es schon spät und wenn ich wirklich noch zum See und dort mein Zelt aufstellen will, dann muss ich das Angebot leider ablehnen.

Am See selbst fahre ich noch rund zehn Kilometer, bevor ich eine Kaffeerösterei erreiche. In Zentralamerika gibt es zwar tausende von Kaffeeplantagen, aber richtig guten Kaffee habe ich hier bisher nur selten trinken können. Also bin ich quasi gezwungen, hier einzukehren und zumindest zu hoffen, dass es hier richtig guten Kaffee gäbe. Und ja, der Kaffee schmeckt sehr lecker. Das Gelände ist groß und wirkt etwas verlassen, daher frage ich, ob ich hier heute Nacht zelten könne. Der Chef der Rösterei bietet mir nicht nur einen Zeltplatz an, sondern auch eine Dusche und sogar ein Bett in seinem Haus, das für Saisonarbeiter gedacht ist.

Ich will keine große Mühe machen, bedanke mich für den Zeltplatz, nehme aber die Dusche liebend gern an um ein Bad in dem kalten See zu vermeiden.

Im Café selbst sitzt jetzt noch ein Russe und trinkt ebenfalls Kaffee. Wir kommen ins Gespräch. Er wohnt hier für vier Monate, hat sich ein Haus gemietet und verdient sein Geld mit Online-Poker. Er ist promovierter Mathematiker und kann von überall auf der Welt aus spielen. Ich bin interessiert. Pjotr, so heißt der Russe, spielt an rund 20 Tischen gleichzeitig. Das geht nur online. Er sagt, es sei alles eine Frage der Statistik. Man brauche Erfahrung, ein gutes Gedächtnis und die Fähigkeit, schnell rechnen zu können, wenn man erfolgreich sein will.

Wir reden auch ein wenig über die aktuelle Situation in Russland. Sind uns einig, dass die Isolation Russlands für alle Seiten negative Konsequenzen hat. Sprechen über die eine Konsequenz, die in den Zeitungen in der Regel nicht erwähnt wird: Die Entwicklung an der russisch-chinesischen Grenze. Pjotr sagt, dass wenn die Chinesen genauso vorgehen würden, wie die Russen in der Ukraine, dann würde jetzt ein riesengroßes Gebiet Ostsibiriens durch China besetzt sein, denn dort leben mittlerweile mehr Chinesen als Russen. Das wissen die Chinesen natürlich auch, sie werden dort nicht mit Gewalt einmarschieren, brauchen eigentlich nur zu warten. Und das tun sie und die Isolation Russlands durch den Westen lädt die Chinesen geradezu ein, nach Russland zu kommen. Das heißt: die Chinesen marschieren momentan friedlich in Russland ein. Und wenn die Sprache Ost-Sibiriens dann irgendwann Mandarin ist, werden die Grenzen neu gezogen.

Es ist kurz vor sechs, Pjotr ist mit seinem Mountainbike hier und muss noch rund zehn Kilometer zu seinem Haus. Er muss los, lädt mich ein, mit ihm zu kommen. Ich lehne dankend ab, habe dafür eine Einladung nach Moskau.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Fortsetzung folgt.
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#1167213 - 25.10.15 08:16 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Dienstag und Mittwoch, 24./25.2.2015: Von der Laguna Arenal über La Fortuna nach Chilamate oder: Warum Frau Haderthauer in Costa Rica noch Ministerin wäre


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Die Kaffeegeschäfte laufen nicht so gut für Costa Rica, erzählt mir Jorge beim gemeinsamen Frühstück in seinem Café. Die Chinesen, die immer größere Teile des Weltmarkts mitbestimmen, wollen italienischen Kaffee von Illy. Illy kauft den Kaffee in Costa Rica und lässt ihn sogar teilweise hier rösten, weil es billiger ist als in Italien. Dann wird der Kaffee nach Italien verschifft und von dort nach China verkauft und weitertransportiert. Wer die Marke hat, hat den Markt. Die Wertschöpfung findet natürlich in Italien statt und nicht in Costa Rica. Mit den Bananen und dem Zucker ist es das Gleiche.

Die Kaffee-Röst-Saison ist jetzt vorbei, Jorges Rösterei ist gerade vollkommen gesäubert. Um überhaupt Kaffee exportieren zu können, muss er schon sehr gut sein. Und aus dem Export erlösen die Röstereien natürlich wesentlich mehr Geld als aus dem Verkauf im eigenen Land. Das erklärt, warum es in Zentralamerika zwar sehr guten Kaffee gibt, aber nicht zu kaufen und nicht zu trinken. Hier, in seinem Café bietet Jorge allerdings seinen eigenen, guten Export-Kaffee an und der ist lecker. Ansonsten trinkt man hier gerne den Instant-Kaffee von Nestlé. Das ist so als würden wir in Deutschland das beste Bier der Welt brauen und exportieren und selber nur irgend eine holländische Plürre trinken. (Anmerkung: Ich mag Holland und die Holländer/innen. Nur in Punkto Fußball und Bier haben wir unterschiedliche Auffassungen, was in guten Disputen durchaus spannend ist.)

Das nächste Frühstücksthema ist mal wieder die Korruption. In Costa Rica sind Politiker offensichtlich auch gerne mal Unternehmer. Dann folgt die Politik natürlich den persönlichen Interessen der Unternehmer. Nicht, dass das in Deutschland nicht ähnlich funktionieren würde – wir verstecken das manchmal nur ein wenig besser. In den letzten Jahren wollte die Politik der Ticos eine Eisenbahn bauen – die Netze existieren ja sogar teilweise noch aus den Zeiten, in denen die Amerikaner hier das Sagen hatten. Ein Präsidentschaftskandidat besaß ein Transportunternehmen mit vielen Lastwagen. Als er Präsident wurde, wurde das Eisenbahnprojekt gestoppt – aus Kostengründen. Fragt sich nur, was damit wirklich gemeint war. Ich schildere das Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Deutschland, mit dem unsere FDP ganz offen die Anforderungen der Hotel-Lobby sogar in ein Gesetz eingebracht hat. Jorge fragt mich, was daran fragwürdig wäre, was ich wiederum fragwürdig finde. Ich schildere die Modellauto-Affäre, bei der die bayerische Arbeitsministerin Haderthauer als Chefin ihres Mannes mit diesem zusammen von psychisch kranken Strafgefangenen in staatlichen Einrichtungen hat Modellautos zusammenbauen lassen und damit viel Geld verdienen konnte. Jorge sagt, dass diese Frau hier in Costa Rica nicht auffallen und weiter im Amt sein würde. Schließlich würde ihr Mann doch die Geschäfte machen.

Die Menschen in Costa Rica scheinen noch politikverdrossener zu sein als wir. Wir sind uns einig, dass Mark Twain am Ende richtig lag: “Wenn Wählen etwas verändern würden, würden sie es uns nicht tun lassen.”

Am Lago Arenal entlang fahre ich im Regen. Schöner Regen. Er ist warm und weich. Ich spare mir die Regenklamotten, weil ich darin sowieso nur schwitzen und nass werden würde. Mein Merinotrikot spielt seine Vorteile aus: Es ist zwar nass, aber ich spüre das gar nicht so. Mein Temperaturempfinden ist genau so wie es sein sollte.

Am Ende des Sees merke ich, dass ich trotz der Wolken einen Sonnenbrand an den Armen habe, da ich aufgrund des Wetters darauf verzichtet habe, mich einzucremen. Driss. Das hole ich dann schnell nach.

Und endlich sehe ich die German Bakery, an deren Werbeschildern ich schon den kompletten Weg entlang des Sees vorbeifahre. Draußen steht ein leerer Bus, drinnen stehen und sitzen schwäbisch schwätzende ältere Herrschaften, die mit dem jungen Bäcker plaudern und froh sind, hier auf einen Landsmann zu treffen und endlich mal wieder vernünftiges Brot essen zu können: “Die Oig’borene könnet desch ja au net!”

Costa Rica als Land ist sehr schön und wesentlich sauberer, als seine Nachbarstaaten. Aber irgendwie werde ich mit diesem Land nicht warm. Es ist schweineteuer hier (mindestens Faktor vier zu den anderen Staaten, teurer als Hannover), laut und voller Touristen. Die eigentlichen Ticos habe ich hier noch nicht gesehen, es ist am Ende fast wie auf Mallorca.

Ich schiebe dieses Gefühl mal auf meinen Frust, den ich auch durch Wetter und Landschaftsprofil habe: Hier, in den Bergen, gibt es fast nur Wind oder Regen oder beides. Die letzten beiden Tage waren extrem anstrengend.

Mal sehen, wie es wird, wenn ich aus den Bergen in der Ebene bin.

Die Nacht verbringe ich in La Fortuna in einem der vielen Chill Out Backpacker Inns. Der Blick aus meinem Zimmerfenster auf den Vulkan Arenal ist großartig und das Spiel des Windes mit den Wolken ändert die Stimmung des Ausblicks minütlich.

Aus La Fortuna heraus ist ausnahmsweise mal Genussradeln angesagt. Die erste Radstunde rollere ich mit einem 20er Schnitt und ohne Wind durch die Gegend. Ich fantasiere von einer Tagesetappe, die mal wieder dreistellige Kilometerzahlen hat.

Bis Vara Blanca bleibt es herrlich flach und auch das Wetter hat sich wunderbar entwickelt, es ist wolkenfrei, ich kann rückblickend den Vulkan Arenal mal in ganzer Pracht bestaunen.

Die Gegend, durch die ich jetzt fahre, ist touristisch nicht erschlossen, dafür gibt es hier Obstplantagen und obstverarbeitende Industrie. Und das bedeutet leider auch eine ganze Menge großer Laster. Ich muss jetzt häufig bergauf fahren, die Straße ist relativ eng, zwei von diesen fetten Lastern passen gerade so nebeneinander. Das heißt: wenn sich zwei Laster begegnen, ist für mich kein Platz mehr.

Und jetzt muss ich einfach mal vulgär werden. Diese Lastwagenfahrer aus Zentralamerika bremsen vor jeder Bremsschwelle, weichen jedem Schlagloch aus. Und davon gibt es hier sehr viele. Das tun sie hauptsächlich, um ihre marode Technik zu schonen. Aber ein Radfahrer auf der Straße interessiert sie nicht die Bohne. Wenn sie merken, dass es eng wird, hupen sie höchstens einmal kurz. Ansonsten wird mit einem Abstand von zwei bis drei Zentimetern überholt. Ihnen ist scheißegal, ob ich dabei in den Graben fahre oder unter ihre Räder komme oder heil bleibe. Diesen Wixxern sind ihre Scheiß-Stoßdämpfer oder irgendwelche Drecksreifen wichtiger als ein Menschenleben.

Jeder, der mich trifft und meine Geschichte hört, fragt mich, ob ich es nicht gefährlich finden würde, hier in Zentralamerika. Gemeint sind damit immer die Raubüberfälle, Erpressungen und Körperverletzungen. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich Angst hätte. Meine Antwort lautet dann immer: “Lo que es peligrosa no es la calle pero la carretera.” Das ist ein Wortspiel und bedeutet frei übersetzt, dass für mich nicht “die Straße” innerhalb der Städte gefährlich ist, sondern die Straßen außerhalb der Städte.

Entlang einer ruhigeren Straße finde ich ein Hostal, in dessen Garten ich direkt am Fluss zelten darf. Es wird von einem Russen betrieben, der einen lustigen Hund hat. Er bietet in seinem Hostal auch Rafting-Touren und sonstige Exkursionen an und fragt mich, ob ich ein paar Ideen hätte, wie er sein Geschäft ankurbeln könnte. Ich schlage vor, entweder das Zeltenlassen im Garten ganz zu verbieten oder daraus auch ein Geschäft zu machen.

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#1167528 - 26.10.15 22:34 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Donnerstag, 26.2.2015: Von Chilamate zu Luís nach Westfalia am Atlantik

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Am Anfang genussradel ich durch die Gegend, was aber nach rund 20 Kilometern wieder in Anstrengung mündet. Mein Ziel ist Puerto Limon und dann die Küstenstraße runter nach Panama. Doch um nach Puerto Limon zu kommen, muss ich rund 100 Kilometer über eine der Hauptverbindungsstraßen zwischen San Jose und dem wichtigsten Handelshafen des Landes fahren. Und da ist die Hölle los. Da werden von den Tico-Lastwagenfahrern keine Gefangenen gemacht. Ein Einheimischer, mit dem ich in La Fortuna über meine Reiseroute sprach, sagte mir, dass auf der Strecke regelmäßig Radfahrer überfahren würden, da die Carretera eng und uneinsehbar sei.

Mir bricht kein Zacken aus der Krone, wenn ich also nochmal 100 Kilometer mit einem Bus fahre. Als ich mittags auf die Carretera 32 treffe, befindet sich genau an der Kreuzung eine größere Busstation. Der nächste Bus nach Puerto Limon fährt in einer halben Stunde. Das ist ein wirklich großer Bus. Mein Fahrrad kann ich aufrecht in den Gepäckraum stellen und ich selbst nehme in einem Luxussessel platz. Aus meinen Erfahrungen in Mexico habe ich gelernt und nehme meine Fleecejacke mit ins Businnere. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren und kühlt die Luft soweit runter, dass selbst ich anfange zu frösteln.

Aus dem Fenster des Busses schauend bin ich froh, die Entscheidung so getroffen zu haben. Die Straße ist voller Laster, die sich sogar überholen, ohne dass die Fahrer wirklich sehen können, ob Gegenverkehr kommt oder nicht. Was geht bloß in den Köpfen dieser Fahrer vor?

Knapp zwei Stunden später sitze ich in Puerto Limon wieder auf dem Rad. Diese Stadt gilt als “Hotspot” für Diebe und Räuber und wirkt nicht gerade einladend auf mich. Ich sehe zu, dass ich schnell zum Meer und dann auf die Straße Richtung Süden komme.

Der Atlantik ist hier weniger spektakulär wie der Pazifik. Karibik eben. Es läuft jetzt. Ich meine, es rollt. Gegen fünf halte ich an einem Restaurant an und kaufe mir eine kalte Cola. Es ist idyllisch und ich frage den Besitzer des Restaurants, ob ich hier zelten dürfe. Claro que sí!

Bei einem leckeren Fisch und einer kalten Cerveza Imperial kommen wir später ins Gespräch.

Ach, wie schön ist Panama. Dabei bin ich ja noch in Costa Rica. Vielleicht will dieses Land es sich mit mir ja doch noch versüßen.

Das Gespräch mit Luís dreht sich um Familie und Kinder. Luís ist knappe 60, geschieden und hat insgesamt sechs Kinder, von denen die meisten schon wieder verheiratet sind. Er empfindet sein Leben ohne Frau wesentlich einfacher als mit Frau. Die Tatsache, dass er Kinder hat, lässt ihn in der Art glücklich sein, die nur eine eigene Familie ermöglicht.

Ich kann das so gut nachempfinden. Seit ich geschieden bin, habe ich ein wesentlich intensiveres Verhältnis zu meinen Kindern und empfinde jetzt mehr familiäre Bindung zu ihnen als in der Zeit meiner Ehe. Auch meine Kinder sind nun – wie die von Luís – erwachsen und werden irgendwann vielleicht mal selbst Kinder bekommen. Insofern kann ich mit zeitlich fernem Abstand und dadurch einer relativ gelassenen emotionalen Stimmung zurückblicken und das so für mich werten.

Zelten am Meer ist wunderbar. Ich liebe das Rauschen der Wellen, wenn ich dabei einschlafen kann. Es hat etwas archaisches, etwas berührend wohliges, etwas Geborgenheit gebendes. Ich bin glücklich.

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Fortsetzung folgt.

Geändert von joeyyy (26.10.15 22:44)
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#1170547 - 09.11.15 22:42 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag, 27.2.2015: Von Westfalia nach Manzanillo oder warum man sich selbst nur selten findet, Langusten hingegen öfter

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Genussradeln ist angesagt, am Atlantik entlang, 70 Kilometer in gut drei Stunden. Läuft!

Am Ende Costa Ricas sammeln sich die Esoterikerinnen Nordamerikas, in einer Sackgasse, an deren Ende ein kleiner Ort namens Manzanillo liegt. Hier gibt es Wellness-Oasen, Tantra-Tempel und Wiedergeburtshebammen – ich fahre dran vorbei und schüttel nur den Kopf. Und was fällt mir auf? Die Häuser dieser Leute sind wahre Prachtbauten und die Autos, die davor parken sind durchaus groß und luxuriös. Wenn es keinen Markt für diese Dienstleistungen gäbe, gäbe es hier nicht ein so großes Angebot. Selbstfindung ist seit Jahren ein Renner. Komisch ist nur, dass die Menschen offensichtlich erstmal andere Menschen suchen und an andere Orte fahren wollen, um sich selbst zu finden. Ich persönlich könnte das wahrscheinlich in meiner Küche eher als an einem fremden Ort in einem fremden Raum, in dem sich Klangschalenklänge durch Räucherstäbchenluft kämpfen.

Ich stelle mir die Frage, wie das eigentlich gehen soll: Sich selbst finden. Ich meine: Wenn man tagtäglich mit sich selbst zusammen ist, dann hat man sich doch. Was soll ich da noch finden können? Die Voraussetzung für das Finden ist eine Suche. Und eine Suche ist zielgerichtet. Nach etwas, das man braucht, das man vielleicht verloren hat. Aber Voraussetzung für eine Suche ist eine Vorstellung von dem zu findenden.

Klar, nach dem Serendipitätsprinzip kann ich auch durchaus Brauchbares finden, obwohl ich gar nicht danach gesucht habe. Oder ich finde etwas, obwohl ich überhaupt gar nicht suche. Das Surfen im Internet ist ein gutes Beispiel dafür. Aber je größer das Chaos ist, in dem ich nach etwas Bestimmtem suche oder in dem ich etwas finden kann, das mir nützt, obwohl ich nicht danach suche, umso unwahrscheinlicher greift das genannte Prinzip. Und wenn Selbstfindung ein Umhermäandern im eigenen Chaos ist, bei dem eigentlich nicht gewusst wird, was gesucht wird, aber auf das Serendipitätsprinzip gebaut wird, dann schmeißen hier ziemlich viele Leute ziemlich viel Geld aus dem Fenster.

In dem Hostal, in dem ich mich einmiete, treffe ich – auf der Treppe mit den Packtaschen in der Hand stehend – Cliff, einen weißhaarigen Amerikaner, der mich gleich einnordet. Wir werden alle nuklear, biologisch und chemisch bestäubt. Die weißen Streifen am Himmel sind der Beweis! Henry Kissinger schrieb schon in den Siebzigern ein Weißbuch, in dem er plante, die Menschheit auszulöschen und einen Weltstaat nach US-Vorbild zu errichten. Und die weißen Streifen zeigen, dass das jetzt in die Tat umgesetzt wird.

Ich schaue ihn fragend an und sage auf spanisch, dass ich ihn nicht verstehe und dass ich jetzt erstmal meine Packtaschen in mein Zimmer bringen möchte. Er drückt mir eine Fotokopie diverser Zeitungsartikel in die Hand und sagt, ich solle mir das durchlesen und dann morgen nochmal mit ihm diskutieren.

Kann eigentlich ein ganzes Land unter Borderline leiden?

Aitor aus Spanien spricht mich an und klärt mich über Cliff auf. Wobei er mich nicht groß aufklären muss – mein erster Eindruck deckt sich mit den Schilderungen des Spaniers. Aitor ist aber eigentlich gar kein Spanier, sondern Baske. Er ist Maler und Bildhauer, hat eine deutsche Mutter und wir unterhalten uns auf deutsch. Von ihm kann ich mir Flossen, Taucherbrille und Schnorchel leihen und endlich mal – wie vor Jahren mit Lennart auf Kuba – in der Karibik schnorcheln. Aitor selbst will mit einer Harpune unser Abendessen schießen. Ich bin gespannt.

Dieses Gefühl der Schwerelosigkeit in körperwarmem Salzwasser, gepaart mit dem Unterwasserwellenrauschen in den Ohren, präge ich mir ein. Ich möchte es immer wieder abrufen können, wenn ich abends im Bett liege, mein Buch zur Seite gelegt habe und mich der Müdigkeit hingebe. Dann will ich genau so in den Schlaf schweben, wie ich jetzt hier zwischen den Riffen der Karibik schwebe.

Ich kaufe Bier und Wein für’s Abendessen. Aitor hat zwei Langusten und einen Fisch geschossen, die er in der Küche des Hostals kocht. Das ganze Haus riecht nach dem leckeren Essen und die Inhaber sind ein wenig sauer, weil sie selbt ebenfalls Essen kochen, was sie dann allerdings verkaufen wollen. Und alle anderen Gäste fragen, ob sie auch Langustensuppe essen können.

Nein, Aitor und ich verneinen, schließlich hat der Baske die Tiere selbst gesucht, gefunden, erbeutet und nun mitgebracht. Im Gegensatz zu den Selbstsuchern in der Nachbarschaft wusste Aitor, nach was er suchte und nahm die zum Finden und Erbeuten notwendige Ausrüstung mit. Langusten sind offensichtlich leichter zu erbeuten als das Selbst. Das bestätigt auch Aitor.

Er wohnt schon seit einigen Wochen hier und will auch noch ein Weilchen bleiben. Seine Kunst wirft nicht allzu viel ab heutzutage, früher verdiente er mehr, als er noch Aufträge aus der Industrie und von den Banken hatte. Seit der Wirtschaftskrise hat das Kostenbewusstsein in Spanien das Kulturbewusstsein verdrängt und so hat Aitor kein festes Zuhause mehr. In Europa hat er ein Wohnmobil, mit dem er in den warmen Jahreszeiten in Frankreich und Spanien umhertourt.

Wir reden über die Arten zu leben, über die Vorteile des einen und die Nachteile des anderen. Allzu lange müssen wir gar nicht reden, da wir uns nicht viel Neues erzählen. Aber in einem Punkt sind wir unterschiedlicher Auffassung: Während Aitor ein Leben mit Frau und ohne Kinder als sinnstiftend ansehen kann, ist es bei mir genau andersherum: Mein Leben ohne Frau kann für mich durchaus erfüllend sein, mein Leben ohne Kinder nicht.

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Fortsetzung folgt.

Gruß

Jörg.
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#1170793 - 11.11.15 06:48 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Juergen
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In Antwort auf: joeyyy
Selbstfindung ist seit Jahren ein Renner. Komisch ist nur, dass die Menschen offensichtlich erstmal andere Menschen suchen und an andere Orte fahren wollen, um sich selbst zu finden. Ich persönlich könnte das wahrscheinlich in meiner Küche eher als an einem fremden Ort in einem fremden Raum, in dem sich Klangschalenklänge durch Räucherstäbchenluft kämpfen.
Hallo Jörg,
ich musste grinsen, als ich das las und könnte ergänzen, dass es auf der Suche zu sich selbst notwendig ist, sich fallen zu lassen. Doch wer lässt sich schon gerne fallen? grins
Deine Sicht der Dinge erscheint mir ein wenig zu pauschal. In meinem Leben habe ich viele Menschen getroffen, die auch auf der Suche waren. Einige Freundschaften halten dauerhaft. Dabei war es durchaus hilfreich, die eigene Küche zu verlassen. zwinker
Das mach ich heute immer noch, tausche dabei aber Seminarhaus und Matratzenlager gegen Fahrrad und Zelt. lach

Ich habe den Eindruck, dass dir CR so überhaupt nicht gefallen hat und finde es schade, denn ich habe das Land zu einer anderen Zeit ganz anders kennen gelernt, war aber nur an der Westküste und im Innland mit dem Auto unterwegs.

Lieben Gruß
Jürgen
° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° ° °
Reisen +

Geändert von Juergen (11.11.15 06:49)
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#1170969 - 12.11.15 07:13 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: Juergen]
joeyyy
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... es stimmt, ich habe meine Eindrücke etwas überzeichnet wiedergegeben. Ich musste so häufig an Loriot denken, als ich diese kurze Sackstraße erst rein und dann wieder raus fuhr.

Und ich selbst kann auch nicht leugnen, dass ich hin und wieder unzufrieden mit mir oder meinem Umfeld bin und dann rangehe, meine Einstellung zur Situation zu ändern. Man kann das auch mit einer gewissen Suche nach sich selbst gleichsetzen. Insofern habe ich diesen Abschnitt mit einem Augenzwinkern geschrieben.

Aber rein logisch ist es eben schwierig, sich selbst zu suchen und sich somit zu finden. Wer sich mit dem Begriff des Selbst und seiner Identität über den Zeitverlauf wirklich auseinander setzt, kann vielleicht nochmal aus einem anderen Winkel auf diesen Prozess schauen. Reine Esoterik halte ich in diesem Zusammenhang für problematisch. Da werden Prozesse, Methoden und Gurus angeboten, die zwar in viele Richtungen führen, aber nur in den seltensten Fällen zum eigenen Selbst. Psychologie halte ich allerdings auch für problematisch. Aber darüber möchte ich keine schriftliche Diskussion anzetteln, ich werde das mal auf einer meiner nächsten Reisen für mich klar ziehen.

CR mag mich in der Tat nicht und ich mag es im Ganzen auch nicht. Ausnahmen mal außen vor gelassen, fühlte ich mich immer als Tourist, der abgezockt wird. Die Infrastruktur ist auf Touristen mit Auto oder Jeep oder Bus (oder auf Obstanbau und -transport) ausgelegt, es ist teurer als in Europa und die Menschen in den Touri-Orten sind im wesentlichen unfreundlich. Wenn man denn Länder sympathisch oder unsympathisch finden kann, dann steht CR bei mir ganz hinten auf der Sympathie Liste. Selbst in so problematischen Ländern wie Guatemala oder El Salvador fühlte ich mich wohler. Und selbst in Honduras waren die Menschen offener und ehrlicher zu mir.

Vielleicht würde eine Treckingtour durchs Landesinnere wieder einiges gerade rücken. Aber meine Pläne gehen in andere Richtungen. Insofern wird Costa Rica für mich eine einzigartige Episode bleiben.

Geändert von joeyyy (12.11.15 07:19)
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#1172238 - 19.11.15 08:09 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Samstag/Sonntag, 28.2./1.3.2015 – Ruhetag in Manzanillo/Costa Rica und dann nach Changuinola/Panama: Endlich wieder raus hier!

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Eigentlich will ich losfahren. Es ist jetzt kurz nach neun und es regnet in Strömen. Ich hatte gestern abend meine Sachen gewaschen und aufgehängt. Die sind jetzt nass. Ich habe schon schlecht geschlafen, weil die fetten Regentropfen auf dem Blechdach mein Schlafzimmer zum Inneren einer Trommel gemacht haben. Aber gerade hört es auf zu regnen, es weht ein lauer Wind und die Sonne zeigt sich hin und wieder mal. Ich hoffe, dass der Tag doch noch schön wird. Wird er, aber erst ab 12 Uhr mittags.

Die Kindle-App auf meinem iPad bietet noch viel spannenden Lesestoff, es gibt zugegebenermaßen nicht viele schönere Orte auf der Welt, um lesend in einer Hängematte einen Ruhetag zu verbringen als ein Karibik-Strand in Costa Rica und einen Ruhetag kann ich gut gebrauchen. Außerdem können meine Sachen trocknen und mittags losfahren lohnt sich doch nicht. Wieso brauche ich eigentlich so komische Ausreden, um einfach nur hier noch einen Tag zu chillen?

Am nächsten Morgen regnet es wieder. Die Inuit haben zwölf Worte für Schnee. Die Maya haben garantiert mindestens zwanzig für Regen.

Es ist halb zehn und ich warte auf eine Regenpause, die nicht kommt. Um zehn fahre ich los. Im Regen in den Regen. Viel zu warm für Regensachen, es ist irgendwie schön, in normalen Radklamotten im Regen zu fahren.

Nach rund 50 Kilometern bin ich an der Grenze zu Panama. Eine alte Eisenbahnbrücke führt über den Grenzfluss, Autos können hier überhaupt nicht rüber.

Die beiden costaricanischen Grenzbeamten geben mir den Rest, was meine Einstellung zu diesem seltsamen Land angeht. Sie sitzen absolut gelangweilt in ihrem Büro und glotzen auf ihre Mobiltelefone. Einer sagt, ich müsse Grenzsteuer zahlen, aber nicht hier.

Ich müsse die Steuer an einem Automat zahlen und dann wieder zurück kommen. Ich bin verdutzt, habe ich doch ausreichend Kleingeld bei mir und das sogar passend. Nein, das ginge nicht, ich müsse an den Automaten. Ich versuche mein Glück. Meine Mastercard wird nicht akzeptiert und der Schlitz für das Bargeld funktioniert nicht. Ich bitte die beiden Beamten, mein Bargeld zu akzeptieren. Keine Reaktion. Ich werde sauer, in einer halben Stunde werden die diesen Posten hier dicht machen und dann müsste ich bis morgen auf meinen Stempel im Pass warten. Ziemlich forsch und deutlich sage ich, dass dieser dämliche Automat nicht funktioniere. Die beiden Typen hinter dem Glasschalter ignorieren mich und starren weiterhin auf ihre Telefone. Eine Frau, die den Grenzposten betritt, sagt, dass ich die Steuer auch in der Apotheke gegenüber bezahlen könnte. Ich kapiere nix mehr, bin ungläubig und schaue gestresst auf die Uhr an der Wand. Aber was bleibt mir übrig? Ich packe meine Dokumente zusammen und schiebe mein Rad vor die Apotheke.

Drinnen frage ich die Frau hinter dem Tresen, wo ich denn hier die Ausreisesteuer zahlen könnte. Sie zeigt auf einen Automaten, ich kriege die Krise und erzähle von meinem Erlebnis mit dem ersten Automaten im Grenzposten. Sie lächelt mich an, kommt zum Automaten und bittet mich um das nötige Bargeld. Das gebe ich ihr, sie drückt ein paar Knöpfe, schiebt die Dollarnoten in den Schlitz und gibt mir eine Quittung. Die solle ich nun dem Grenzposten vorzeigen und dann würde ich die Stempel kriegen.

Die beiden Typen von vorhin streiten sich nun mit der Frau aus Panama, die vorhin reinkam – ich weiß nicht, warum. Sie ist wütend und geht raus. Ich zeige den Beamten nun ohne ein Wort und mit böser Mine meinen Reisepass und die Quittung aus der Apotheke. Einer schaut gelangweilt auf die Quittung, klatscht auf irgendeine Seite meines Passes den Costa-Rica-Stempel und schiebt mir den Pass wieder zu. Tschüss Costa Rica, tschüß Ticos, auf Nimmerwiedersehen!

Die ehemalige Eisenbahn- und jetzige Fußgängerbrücke ist abenteuerlich, ich schiebe mein Rad lieber rüber. Vorher will noch ein Polizist meinen Reisepass sehen und den Stempel seiner Kumpel inspizieren. Ohne den wäre ich wohl nicht rausgekommen, aus diesem Abzockerland. CR verlässt mich, wie es mir begegnet war: Missmutig, mit Wind, mit Regen.

Panama empfängt mich zwar mit dem gleichen Wind und Regen, aber die Strecke ist wunderbar: Auf einer stillgelegten Eisenbahnstrecke geht es durch Wälder und Felder. Als ich eine Brücke über den Rio San San überquere, sehe ich einen alten Bus auf einem Floß mitten im überquerten Fluss ankern. Hinter der Brücke ist irgend ein Informationszentrum, ich fahre in die Einfahrt und frage einen Mann, der das Gebäude gerade absperrt, ob ich hier am Fluss zelten dürfe. Nein, das ginge nicht, sagt er – allerdings mit offener und freundlicher Mine. Er sei hier nur der Verwalter und könne das gar nicht entscheiden. Ich frage, was das hier denn sei. Ich erfahre, dass ich in einem Informations- und Koordinationszentrum für die Renaturierung dieser Gegend und die Hege und Pflege von Meeresschildkröten gelandet bin. Interessiert frage ich, warum denn hier renaturiert werden müsse.

Der Mann freut sich über das Gespräch und erklärt mir, dass für die Bananen-Plantagen viel Land geopfert werden musste und dass der Regenwald bis zum Atlantik gerodet wurde. Das führte dazu, dass die Meeresschildkröten, die hier Jahr für Jahr herkamen, um zu laichen, ausblieben, da sie keine Ruhe zum Laichen hatten.

Vor ungefähr fünfzehn Jahren haben Umwelt- und Tierschutzorganisationen Geld gesammelt, den Bananen-Baronen einen breiten Landgürtel entlang des Flusses bis zum Ozean abgekauft und jetzt ist man dabei, diese Gegend zu renaturieren. Das heißt: Bäume und Büsche anzupflanzen, die es hier schon lange nicht mehr gab. Und mittlerweile kommen auch die ersten Schildkröten wieder, um am Strand – dort, wo der San San in den Ozean fließt – zu laichen.

Die Brut wird – auch nachts – von Freiwilligen und Angestellten des Vereins bewacht, um möglichst viele kleine Schildkröten sicher ins Meer zu begleiten, wo sie noch genügend Fressfeinde erwarten.

In der Zwischenzeit hat sich noch die Frau des Verwalters zu uns gesellt. Ich frage nochmal höflich, ob ich hier nicht übernachten dürfe – ich würde morgen früh auch ganz früh wieder wegfahren. Die beiden schauen sich an und nicken mir zu. Sie lassen sogar die Toilettenanlage geöffnet, damit ich fließendes Wasser habe. Ich spende zehn Dollar für den Verein und freue mich über dieses tolle Nachtlager. Meine Dusche ist eine gefüllte Einliter-Alu-Wasserflasche, die ich am Wasserhahn wieder nachfüllen kann. Ich bin sehr zufrieden, baue mein Zelt unter ein Pavillondach direkt am Fluss und werde von Grillen und Fröschen in den Schlaf gesungen.

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Gruß

Jörg.
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#1174086 - 29.11.15 18:40 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Montag, 2.3.2015: Von Changuinola bis Pueblo Nuevo, Dienstag, 3.3.2015: Von Pueblo Nuevo bis irgendwo in den Bergen, Mittwoch, 4.3.2015: Von in den Bergen weiter in den Bergen zur Lost and Found Lodge und Donnerstag, 5.3.2015: Ruhetag im Regenwald. Oder: Was man gar nicht tun muss, um sich reich zu fühlen.


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Fortsetzung folgt.

Gruß

Jörg.
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#1174472 - 01.12.15 07:13 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Freitag, 6.3.2015: Von der Lost and Found Lodge nach San Felix an der Panamericana. Oder: Warum man alt nicht mehr jung ist.

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Ich bezahle meine Rechnung, 80 US-Dollar. Wow – ich bin blank. Rotwein im Dschungel ist eben teuer. Geldautomaten sind im Dschungel ebenfalls Mangelware, also muss Frank mir 20 Dollar leihen, mir selbst bleiben noch sechs. Ich habe ungern Schulden. Es soll Leute geben, die leben vom Schuldenmachen – leihen sich Geld für einen niedrigen Zinssatz, lassen das Geld für sich arbeiten, kassieren einen hohen Zinssatz, geben das geliehene Geld wieder zurück und leben von den mehr erhaltenen als gezahlten Zinsen. Leverage-Effekt nennt man das in der Betriebswirtschaftslehre. Obwohl ich das mal studiert habe und ich auch wüsste, wie ich so Geld verdienen könnte, kann ich das nicht. Will ich das nicht. Das ist nicht mein Naturell. Ich will niemandem etwas schulden. Schulden machen erpressbar. Erpressbar zu sein heißt, unfrei zu sein. Unfrei im Kopf, unfrei in den Handlungen. Und wenn dann die Theorie in der Praxis nicht greift, wird es problematisch. Je nachdem, von wem man sich Geld geliehen hat, hat man sich verkauft. Mephisto lässt grüßen und bestimmt den Grad der Prostitution des Faust. Und die Staaten dieser Erde machen das Schuldenmachen im Moment mit ihrer Niedrigzinspolitik so attraktiv wie nie. “Investitionsanschub” nennen die das dann. Nein, danke, ich nicht. Selbst die zwanzig Dollar, die ich Frank jetzt schulde, lassen in mir solche Gedanken entstehen.

Der Weg runter von der Lodge zur Straße ist steil, die Abfahrt in die Pazifikebene rasant, mein Tacho zeigt 76 km/h als Maximalgeschwindigkeit. Das ist nicht so viel, aber die Windböen sind unberechenbar.

Mit den abnehmenden Höhenmetern nehmen die Celsiusgrade auf dem Thermometer zu. In der Karibik regnet es häufig, hier selten. In David biegen Frank und ich links ab, auf die Panamericana, Richtung Panama City.

Die Autobahn ist einseitig gesperrt, der Verkehr fließt über zwei Fahrspuren, es ist extrem eng. Das hier ist eine Riesenbaustelle, eng, laut, staubig. Da macht Fahrradfahren nicht nur keinen Spaß, es ist auch sehr gefährlich. An einem Kiosk beschließen wir, die nächsten 30 Kilometer bis San Felix mit einem Pickup-Taxi zu überbrücken und dann den Rest nach Panama City mit dem Bus zu fahren. Wir hätten zwar noch die Zeit, dorthin zu radeln, aber warum sollen wir uns hier quälen, wenn wir in der Stadt Kultur und Zivilisation erleben können. Außerdem wollen wir die eingesparte Zeit nutzen, um dann am Kanal entlang vom Pazifik zum Atlantik und wieder zurück zu fahren.

In San Felix, an der Bushaltestelle, treffen wir Andy, einen Reiseradler aus Neuseeland. Andy radelt durch die Welt und ist halt gerade hier. In seiner Heimat arbeitet er immer so lange in einer Fabrik, bis er genügend Geld für ein Jahr Auszeit plus Rückflug hat, dann reist er so lange durch die Welt, bis das Geld alle ist und fliegt wieder zurück nach Neuseeland.

Frank, Andy und ich beschließen, hier in einem Hotel abzusteigen und es uns mal so richtig gut gehen zu lassen. Wir fahren Richtung Strand und fragen in einem Hotel, das von einem Berliner betrieben wird, nach Zimmern. Ich rede auf deutsch mit dem Besitzer und bekomme einen guten Preis. Voraussetzung: Wir müssen uns zu dritt ein Zimmer teilen. Kein Problem. Das Hotel hat einen Mallorca-Tourismus-Standard, also Luxus pur für uns.

Nachdem wir geduscht haben, springen wir in den hoteleigenen Swimmingpool, holen uns ein paar Flaschen Bier und lassen es uns im Wasser gut gehen. Wir verabreden ein kleines Spielchen: Wenn die Flaschen leer sind, muss derjenige neues Bier holen, der am kürzesten unter Wasser bleiben kann. Na ja, ich habe zwar die größten Lungen, bin aber am wenigsten alkoholfest. Ich mache das ganze nur einmal mit, da ich befürchte, dass irgendwas passieren könnte, das nicht geplant war. Wir wollen uns ja auch nicht abschießen, haben schließlich ein gut klingendes Abendessen gebucht.

Andy ist ein wirklich sympathischer Globetrotter. Frank und ich beneiden und bewundern ihn zugleich. Wie gern wäre ich an seiner Stelle. Dreißig Jahre alt, keine Verpflichtungen, gesund, gut aussehender Kerl mit sympathischer Ausstrahlung, mit dem Fahrrad unterwegs in der Welt. Na gut, wir verabreden, dass wir zwar keine dreißig mehr sind, aber ansonsten durchaus mithalten können. Und Frank will jetzt sogar nach Hause. Er versucht schon seit zwei Tagen, einen früheren Rückflug von Panama City nach Holland zu organisieren. Ich selbst könnte zwar noch ein paar Wochen weiterreisen, aber der Magnet “Zuhause” zieht auch bei mir – mehr als er es früher tat.

Was bedeutet das? Mit fünfzig ist man keine dreißig mehr.

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Gruß

Jörg.
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#1175218 - 05.12.15 09:10 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
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Samstag, 7.3.2015 bis Donnerstag, 12.3.2015 mit dem Transfer von San Felix nach Panama Stadt, Sightcycling, einigen Ruhetagen mit Kultur und Kanal und noch einer Tour vom Pazifik zum Atlantik und zurück. Und dem Ende der Reise.

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Das angekündigte deutsche Frühstück mit Frank und Andy entpuppt sich als Papp-Brot mit Butter und Marmelade, dazu ein hart gekochtes Ei. Der Kaffee ist allerdings sehr gut, die Leute sind freundlich und wir haben uns wohl gefühlt.

Neben uns wohnt ein deutsches Paar, beide Mitte 50, Aussteiger. Beide frisch komplettoberkörpertätowiert, er Schichtarbeiter, sie Friseuse. Ex-Schichtarbeiter, Ex-Friseuse.

Kommen aus München, haben ihr Haus dort für einen hohen sechsstelligen Betrag verkauft und bauen sich jetzt hier in Panama ein neues Haus. Natürlich muss es genauso sein, wie das in München. Man wohnt hier seit vier Monaten in diesem deutschen Hotel, weil der Besitzer halt ein Deutscher ist und auch noch weitere Deutsche da sind. Da kennt man sich dann, man kann unter sich sein. Die beiden braun Gebrannten sitzen in Badehose und Bikini am Pool, rauchen ihre Zigaretten, trinken ihren Kaffee. Die Frau kann schon so viel Spanisch, dass sie einkaufen und im Restaurant bestellen kann, erzählt der Mann. Er lernt dann spanisch, wenn er Zeit hat. Jetzt muss er viel die Hunde ausführen und auf der Baustelle die Arbeiter überwachen. Man will ja schließlich gerade Fliesen haben und die Arbeiter aus Panama können das nicht.

Nach rund zehn Minuten Smalltalk rufen mich meine Fahr-Kameraden und wir fahren zur Bushaltestelle.

Nach zwei kühlen Bierchen am Morgen kommt der Bus, wieder so ein Monster. Andy will mit dem Rad weiter, Frank und ich verstauen unsere Räder im Bus, kurze Verabschiedung, um halb zwölf geht’s Richtung Panama-Stadt.

Im Bus sitze ich neben einer älteren Frau, wir kommen ins Gespräch. Die Panamericana wird auf 200 Kilometer doppelspurig ausgebaut, das ist ein Milliardenprojekt, das von einer kolumbianischen Firma durchgeführt wird. Normalerweise könnten das auch Firmen aus Panama, das haben sie schließlich im Norden und im Süden gezeigt. Aber man munkelt, dass ein Minister aus Panama Teile seiner Familie in Kolumbien hat. Die Korruption ist hoch hier in Panama. Die Wertschöpfung des Bauprojektes fließt nach Kolumbien, von dort kommen die Architekten, Ingenieure und Vorarbeiter. Nur die niederen Tätigkeiten werden zum Teil von Menschen aus Panama durchgeführt.

Fast jeder Politiker hier hat noch eine Firma, die dann plötzlich prosperiert, wenn der Politiker gewählt wird. Meine Nachbarin beneidet Europa wegen der fehlenden Korruption, in ganz Zentralamerika zermürbt sie die Menschen. Auch dieser Frau erkläre ich die europäische Lobbyarbeit mit ihrer subtilen, undurchschaubaren Form von Korruption und erkläre anhand von Beispielen, dass unsere Politiker ebenfalls korrupt sind, es heißt nur nicht so.

Ein ehemaliger deutscher Kanzler arbeitet jetzt für eine russische Pipeline Firma, ein ehemaliger deutscher Umweltminister arbeitet jetzt für eine große Autofirma, für einen ehemaligen Kanzleramtsminister hat die Kanzlerin als Eignerin der deutschen Bahn dort sogar einen eigenen Posten mit Millionenbezügen geschaffen.

Ich kann zwar nicht sagen, dass die Frau beruhigt ist, aber zumindest habe ich Europa ein wenig ent-idealisiert die moralischen Abstände zwischen den beiden Kontinenten etwas verringert.

Frank und ich sind froh, dass wir den Bus nehmen. Der Wind ist heftig, kommt aus Südost, das hieße für uns also: Gegenwind. Bei einer Pause an einer Tankstelle merken wir auch, wie heiß es hier ist. Verbunden mit dem Staub und dem Lärm der Baustelle wäre das Radeln hier eine echte Qual. Ich habe keine Probleme mit dem Selbstquälen beim Radfahren, wenn ich gegen Hitze, Kälte, Sturm, Berge oder Sand ankämpfen muss. Dann pisst mich das zwar auch an, aber ich ziehe es durch. Wenn aber Menschen hinter den Unbilden des radelnden Vorankommens stecken, dann frage ich mich höchstens noch rhetorisch, ob ich mir das antun muss. Und wenn möglich, fahre ich dann eben mit dem Bus oder der Bahn so weit, bis ich wieder mehr Freude am Radeln habe. Das gönne ich mir.

Gegen sechs Uhr nachmittags kommen wir in Ciudad am Busbahnhof an. Ich programmiere den Garmin und wir fahren über mehrspurige Autobahnen vom Busbahnhof in den Stadtteil Casco Viejo. Der Garmin ist hier ein unentbehrlicher Helfer. Panama Ciudad ist beeindruckend. Wir fahren durch ein Reichenviertel, direkt an der Zufahrt zur Brücke der Amerikas, welche die beiden geografischen Kontinente Nord- und Südamerika verbindet. Die Häuser hier sind durch Zäune mit Stacheldraht abgesichert. In Panama gibt es eine breite Oberschicht, die in den Banken, Reedereien und Speditionen arbeitet und rund um das Steuerparadies und den Kanal viel Geld verdient.

In direkter Nachbarschaft liegen dann auch vernachlässigte Häuser, die Menschen sitzen auf den Treppen und der Straße, Polizei und Militär zeigen Präsenz. Die Unterschiede zwischen arm und reich sind deutlich sichtbar.

In einem kleinen Hostel mitten im Altstadtviertel mieten wir uns ein, duschen und schlendern durch die Straßen, um die Gegend ein wenig zu erkunden. Im Lonely Planet stehen ein paar kulinarische Empfehlungen, denen wir folgen. Wir holen uns ein paar Tapas und Bierdosen auf die Faust und setzen uns auf eine Bank eines belebten Platzes. Ab acht Uhr abends wird die Stimmung dann anders. Die Menschen verschwinden so langsam, es bleiben dunkle Gestalten über, denen wir nicht über die Wege trauen. Ein Mann mit verschlissener Kleidung und verwegener Frisur setzt sich direkt vor uns auf die Straße und schaut mir aggressiv in die Augen. Sagt nichts. Keine Gesten, keine Worte. Frank und ich schauen uns an, nehmen unsere Sachen und verschwinden in Richtung Hostel. Auf dem Weg dorthin kommen wir an einem edlen Restaurant vorbei, wo dann die “High Society” eine Party zelebriert. Die Menschen kommen mit ihren teuren Autos vorgefahren, steigen einfach so aus, irgendein junger Mann kommt sofort angelaufen und fährt das Auto dann irgendwo hin, wo es Parkmöglichkeiten gibt. Na, das nenne ich mal Vertrauen. Vor dem Restaurant findet dann das statt, was ich halt so aus den Hollywoodfilmen kenne: Man steht mit Sektchen, Täschchen und Röckchen zusammen, hält Smalltalk und zeigt sich den anderen. Das sind die Parties, die ich nie mochte, die ich während meines Berufslebens immer vermieden habe und weiterhin vermeiden werde.

Die schönste Art, eine Stadt zu besichtigen, ist für mich, sie zu beradeln. Zuhause am Computer hatte ich schon eine 60-Kilometer-Rad-Runde zurechtgelegt und auf den Garmin übertragen. Jetzt fahren Frank und ich sie ab.

Panama Stadt ist groß, interessant und wunderbar per Rad zu erkunden. Allerdings waren die Gegensätze zwischen arm und reich für mich auch in noch keiner Stadt so groß wie hier. Ciudad ist stinkreich. Und dreckig zugleich. Und militarisiert, um die zivile Ordnung aufrecht zu halten.

Downtown und in den Bankenvierteln fallen mir die dicken Menschen in den dicken Autos auf. Während bei uns in Europa diese unnützen und gefährdenden SUV-Protzkisten ja mittlerweile viel Misstrauen, Ärger und Ablehnung hervorrufen, sind sie hier immer noch Statussymbol.

Panama ist auch eine sportliche Stadt. Direkt am Meer entlang führt ein sehr gut ausgebauter Radweg, direkt neben einem breiten Fußweg, der von vielen Joggerinnen und Joggern genutzt wird.

Am Ende dieses Tages sind wir knapp 80 Kilometer gefahren.

Abends gehen wir zum Fischerei-Hafen, um den verheißenen leckeren Fisch zu essen. Na ja. Es ist Sonntagabend, halb Panama hat die gleiche Idee. Rappelvoll ist es hier, jeder Stand hat Megalautsprecher aufgebaut, es ist so laut, dass wir uns nicht unterhalten können.

Das heftigste hier ist aber der Gestank. Sämtliche Fischabfälle werden einfach aus den Fenstern der Küchen geworfen, wo sich Pelikane und Möwen ums Abendmahl streiten. Zwar scheint jetzt nicht mehr die Sonne, aber die Hitze ist auch abends noch da und verstärkt den Geruchsekel nochmal drastisch.

Dennoch essen Frank und ich einen Fisch, der tatsächlich sehr lecker ist, aber danach gehen wir auch schnell wieder in Richtung Hostel.

Die letzten Tage sind halt so Besichtigungstage in einer Großstadt mit Besuchen in Museen, größeren Läden, dem Friseur und empfohlenen und nicht empfohlenen Restaurants. Nichts besonderes.

Am vorletzten Tag radel ich nochmal allein nach Colon, oben am Atlantik, will den Panama-Kanal komplett abfahren. Das ist eine schöne Tour am Stausee vorbei, der die Schleusen mit Wasser versorgt. Als ich unterwegs über eine Brücke über einen Fluss fahre, liegt direkt unter mir ein fettes Krokodil. Einen Taxifahrer, der in der Nähe auf Gäste wartet, frage ich, ob das normal sei und ob es nicht auch mal Unfälle mit den Tieren gäbe. Ja, meint er ziemlich lässig, manchmal kommen halt Angler nachts nicht mehr von ihren Fängen zurück und werden auch nie wieder gesehen. Dann sind sie wohl gefressen worden.

So, und dann bricht auch schon der letzte Tag meiner Reise an. Ich werde etwas melancholisch, Frank freut sich.

Wir schlendern nochmal durch die Stadt, die Hitze ist extrem. Die Menschen arbeiten in dieser Hitze inmitten der Häuserschluchten, restaurieren und renovieren alte Gebäude in Staub und Lärm. Ich kann mir nicht vorstellen, hier zu leben – jeden Tag Hitze.

Wir trinken noch einen leckeren Abschieds-Mojito in einer kubanischen Bar, leider mit Bacardi und nicht mit Havanna-Club. Frank und ich reden über unsere Leben, übers Bergsteigen, wir überlegen, ob wir im August gemeinsam auf den Eiger steigen.

Ich war lange nicht mehr bergsteigen, ist ein schöner Gedanke.

Nach dem Abendessen nehmen wir uns dann ein Taxi zum Flughafen, wo wir auf unseren Isomatten in einem etwas abgeschiedenen Teil einschlafen.

Frank steht schon um vier auf, ich um halb sechs. Wir verabschieden uns herzlich.

Mein Flugzeug fliegt etwas verspätet los, muss ab Santo Domingo eine nördlichere Route nehmen, wir werden also mit rund zwei Stunden Verspätung in Frankfurt ankommen, ich werde meinen reservierten Fahrradplatz nicht bekommen. Und hoffe auf einen freien Platz im Folgezug.

Zeit für ein Resümee, zehntausend Meter über dem Atlantik.

Janosch sagt ja: „Wenn man einen Freund hat, braucht man sich vor nichts zu fürchten.“ Ich habe mit Frank zumindest während der letzten Tage einen Freund gefunden. Das kann ich aufrichtig sagen. Die Zeit mit ihm hat sich für mich gut angefühlt.

Von was kann ich noch resümieren?

Von den fettesten freundlichen Menschen der Welt in Mexiko, den Party-Amis und Möchtegern-Aussteigern an den schönsten Karibikstränden in Belize, einem Kurz-Sprachkurs in Q’eqchi’ und einer tollen jungen Kinderärztin in Guatemala, einem Fußballspiel und der grünen Schildkröte in El Salvador, der Furcht der Menschen vor dem eigenen Land in Honduras, der Hitze und den Vulkanen in Nicaragua, von meiner Abneigung gegenüber Costa Rica sowie von den vielen Gegensätzen und wie schön es ist in Panama.

Und davon, dass man sich wirklich vor nichts fürchten muss, wenn man Freunde finden kann. Und die kann man überall finden. Neugier hilft dabei ungemein.

Was bleibt?

Ich komme garantiert mit vielen bleibenden Eindrücken zurück. Ein anderer Mensch bin ich obgleich nicht. Aber wenn das Leben nicht das ist, was wir erleben sondern das was wir erinnern und das was wir von diesen Erinnerungen erzählen, dann ist mein Leben jetzt wesentlich reicher. Und erzählt habe ich jetzt meine Erinnerungen an diese Reise. Was ja dann mein Leben ist.

Epilog.

Kalt ist es. Saukalt. In Frankfurt am Bahnhof laufen viele Menschen bei rot über die Fußgängerampeln. Hat während der letzten sieben Wochen ein Kulturwandel Deutschland überfallen oder wollen die einfach nur nicht festfrieren?

Die Bahnfahrt mit Rad im Intercity ohne Reservierung funktioniert, ein freundlicher Schaffner hat Verständnis und nimmt mich mit.

Ich freue mich über mein Land. Weil ich hier leben kann, weil ich von hier aus reisen kann und weil ich wieder hierher zurückkehren kann. Auch, wenn ich mich irgendwann wieder über unnötige Verkehrsregeln, sture Schaffner und schamlose Lobbyisten ärgern werde. Ach, das gehört dazu.

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Mehr Bilder gibt es hier (klick)

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Ende.

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Vielen Dank fürs Dabeisein und Kommentieren und Gruß

Jörg.
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#1175229 - 05.12.15 09:52 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
Keine Ahnung
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Beiträge: 12.862
Danke für den tollen Reisebericht!
Gruß, Arnulf

"Ein Leben ohne Radfahren ist möglich, aber sinnlos" (frei nach Loriot)
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#1175418 - 06.12.15 13:05 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
stux
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Beiträge: 75
Hallo Jörg,
bei Deinem Bericht über Guatemala bin ich auf den Thread gestossen, hat mich begeistert, ich war mal als Rucksack-Touri 1992 für einige Monate in Guatemala....
Ich habe dann auch den weiteren Bericht verschlungen, vielen Dank für Deine Schilderungen, die mich sehr berührt haben!
Costa Rica hat mir vor zwei Jahren sehr gut gefallen, wobei ich viele Deiner Einschätzungen nachvollziehen kann!
Sehr schön und vielen Dank, Gerd
immer wieder gern auf Tour
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#1177946 - 19.12.15 15:37 Re: Centroamérica en bicicleta [Re: joeyyy]
joeyyy
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Beiträge: 999
Danke für alle Kommentare schmunzel

Die nächste Tour soll nach Asien gehen, da war ich noch nicht. Ich werde wieder berichten.

Gruß

Jörg.

Geändert von joeyyy (19.12.15 15:37)
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