Re: Reiseradgabel - was haltet Ihr davon?

von: ohne Gasgriff

Re: Reiseradgabel - was haltet Ihr davon? - 03.07.15 16:30

Die geschobene Vorderradschwinge, auch Earles-Gabel nach ihrem Erfinder Ernest Richard George Earles, wurde von BMW in den 50er Jahren auf breiter Front im Serienmotorradbau eingeführt. Man kann schon behaupten, daß BMW dieser Gabel das Laufen beigebracht hat, indem sie sie erstens verwindungssteif ausgeführt und zweitens präzise in vier(!) Kegelrollenlagern gelagert haben. An den Gabelholmen befanden sich zwei mögliche Lagerpunkte für die Schwinge, um die Lenkgeometrie auf die unterschiedlichen Anforderungen bei Solo- und Seitenwagenbetrieb einstellen zu können (langer oder kurzer Vorderradnachlauf). Die Schwingenlänge entsprach dem Radius des Vorderreifens, was zusammen mit der direkt am Schwingenholm angelenkten Trommelbremse einen Bremsnickausgleich bewirkt. Wenn man Telegabeln gewohnt ist, muß man sich an dieses Fahrverhalten allerdings erst gewöhnen, denn das Eintauchen der Front liefert dem Fahrer wichtige Rückmeldung über die Bremskraft und das, was am Vorderreifen gerade los ist. Das gilt ohne Einschränkungen auch für's Fahrrad, und auf einem gut abgestimmten Fully weiß man auch auf Asphalt viel besser, wo man dran ist, kann viel näher "an die Kante gehen", den Reifen zum Schmatzen oder Wimmern bringen, als z.B. mit einer Starrgabel. BMW hat, nach einer Telegabel-Epoche von den 70ern bis in die frühen 90er Jahre, wieder mit alternativen Vorderradführungen begonnen (Telelever, Duolever (Hossak)), die ebenfalls einen vollständigen Bremsnickausgleich ermöglichen, hat diesen vollständigen Ausgleich aber nie wieder ausgeführt, sondern einen Rest Eintauchen aufrechterhalten. Die Fahrer sind trotzdem gespalten. Es gibt welche die kommen zurecht und freunden sich damit an, während andere (mich eingeschlossen) über das abgekoppelte Vorderrad klagen, von dem man keine rechte Ahnung hat, was es gerade treibt. (Nicht gefühlsecht! Abgelehnt! ;-) )

Der Vorteil einer Schwinge liegt u.a. darin, daß im Gegensatz zur Telegabel keine Gleitreibung auftritt, sondern nur das bisschen Lagerreibung im Drehpunkt. Sie spricht deshalb unabhängig von der Stoßrichtung immer gleich gut an, hat dann aber wegen der relativ großen ungefederten Masse ihre Probleme, dem Untergrund feinfühlig zu folgen, wenn's arg zur Sache geht (schnelle aufeinanderfolgende Fahrbahnstöße). Das gilt auch für die Kurzschwinge (Kurzschwinge = Schwingenlänge < Reifenradius) der Hercules K50, K125 Military etc. Auch bei dieser war der Bremsanker direkt am Schwingenholm befestigt, was beim Bremsen zu einem Aufbäumen der Front führt. Fahrmechanisch ein erheblicher Nachteil, die Lenkung wird steif, die Federung geht an den Ausfederanschlag und das Rad kann Unebenheiten nicht mehr folgen. Es war ein Segen, als Hercules diese Bauweise mit der K80 watercooled endlich eingestellt hat und zu einer funktionierenden Telegabel zurückgekehrt ist.

Vorderradschwingen, ob kurz oder lang, gibt's im Motorradbau noch bei den Gespannen. Dort haben sie auch ihre Berechtigung, weil sie mit den dort hohen Querkräften viel besser klar kommen als eine Telegabel, weil sie für die typischen kleinen Handwerksbetriebe vergleichsweise einfach herzustellen sind und weil ihre Masseträgheit (auch um die Lenkachse) beim Gespann längst nicht so störend ist. Was man aber nie mehr gemacht hat, ist das Bremsmoment direkt am Schwingenarm abzustützen. (Ich kenne zwei Ausnahmen, nämlich Kalich an einer bemerkenswert häßlichen und sehr langen Langschwinge und ARMEC an einer Schwingenhilfskonstruktion für eine serienmäßige Telegabel am Schwenkergespann. Diese hatte nur die Aufgabe, den Nachlauf zu verkürzen und die Bremszangen zu tragen, um mit diesem mechanischen Anti-Dive-System den für Gespannverhältnisse üppigen Federweg dieser Telegabel im Zaum zu halten.) Alle anderen hängen die Bremszange momentenfrei an einem Parallelogramm auf (siehe oben verlinktes Foto) und eine solche Anordnung wäre auch mit Fahrradkomponenten ohne weiteres durchführbar. An meinem eigenen Gespann war dieses Parallelogramm so ausgeführt, daß die Zugstrebe schön optisch parallel zum Schwingenholm verlaufen ist, während der Schwingendrehpunkt oberhalb der Schwinge angeordnet war. Dies hatte wieder einen Anti-Dive-Effekt zur Folge und ich bin damit nicht klar gekommen. Erst als ich diesen Geometriefehler korrigiert hatte, blieb das Vorderrad bei Vollbremsungen auf der Straße ohne rumzuhüpfen.

Um die lange Rede jetzt mal ungefähr zusammenzufassen:
Eine gute Vorderradgabel zeichnet sich dadurch aus, daß sie verwindungssteif konstruiert und vernünftig gelagert ist. Verwindungssteif sind geschlossene Profile, also Rohre, die auch an den Enden verschlossen sind (Deckel drauf). Sie braucht außerdem eine zum Federweg passende Mindestlänge und einen geeigneten Anstellwinkel, um die Lenkgeometrie bei der Federbewegung möglichst konstant zu halten oder sinnvoll zu variieren. Ob sie beim Bremsen eintauchen oder sich neutral verhalten soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Aufbäumen sollte sie sich jedoch nicht. Und sie sollte möglichst leicht sein, inbesondere beim Fahrrad.