Re: Ach so, nur Schweiz

von: kettenraucher

Re: Ach so, nur Schweiz - 12.06.12 17:26

Der Mittelgebirgsradler betritt Neuland und denkt: Groß, diese Gegend ist vor allem saumäßig groß. Das eigentlich riesige Tal ritzt nur eine winzige Furche in dieses übermäßig gewaltige Gebirge. Aber die Nordrampe des Gotthard ist zielstrebig und erklimmt den Scheitelpunkt hoch oben auf diesem gigantischen Monstrum schnurstracks und in vielen langen Geraden. Unnötige Schlenker und geschmeidige Serpentinen sind hier nicht angesagt.

Trotzdem liegt die Steigung im Schnitt bei nur etwa acht Prozent, sie zieht sich aber hin, und zwar über eine Strecke von etwa zehn Kilometer, also für einen Hochgebirgsneuling durchaus eine kleine Herausforderung jenseits seiner beschaulichen Alltagsroutine. Aber ich komme gut voran und drücke sogar ziemlich auf´s Tempo, da es nach Auskunft der meteorologisch Sachverständigen heute noch kräftig regnen und stürmen soll.

Die prächtige Landschaft empfängt mich übrigens mit erstaunlich viel grünem Klimbim. Unzählige Gebüsche umzingeln die steinalten Gerölle und so manche Sträucher erobern wagemutig sogar die steilsten Felsenklippen. Zottelige Kräuter machen Lust auf eine botanische Untersuchung und auch den interessanten hexagonalen Mustern der verblassenden Schneefelder könnte man eine vertiefende naturkundliche Betrachtung widmen. Aber ich hab grad was anderes vor und konzentriere meine Kräfte ganz auf meinen ersten richtigen Alpenpass.

Kaum ein Auto unterbricht die Meditation des Velonauten. Es ist himmlisch still. Ich höre eigentlich nichts und fahre entspannt vor mich hin. Welch ein Genuss nach der gestrigen Fahrt durch diese verdammte Höllenschlucht. Aber mit der Höhe kommt der Nebel, er wird dichter, dunkler, grauer, er legt sich schwerfällig über die Straße und ich erkenne bloß noch ein paar Meter Asphalt vor meiner Nase. Ohne Sicht lassen sich im Anstieg keine Zwischenziele ins Auge fassen und somit auch keine Zwischenziele erreichen und die ganze Sache wird mit der Zeit schon mal zu einer mühsamen Kurbelei.

Trotzdem erreiche ich schneller als gedacht den Abzweig zur historischen Passstraße und gerate nun endgültig in das dichteste Nebelmeer. Ruhe, Einsamkeit, ein paar tiefen-entspannt herumliegende Gesteinsbrocken, ein paar Meter Straßenpflaster aus der Familie der Gneise, ein buntes Velo, ein interessierter Abenteurer aus der Dynastie der Möchtegerns, alles zusammengeschrumpft auf eine kleine sichtbare Welt von zehn mal zehn Metern. Das ist es, was mir der unsichtbare Berggigant heute zu bieten hat. Ein winziges Hier und Jetzt. Ich halte an und halte inne, setze mich auf einen Felsen, koste die reinste Luft, sauge die tiefste Stille, fühle die schönste Ruhe und erlebe eine kaum vorstellbare Glückseligkeit. Es ist ein wunderbarer Ort. Ich verweile stumm und in Gedanken versunken. Es ist hier tausendmal schöner und zauberhafter als ich es jemals erwartet hätte.

Hätte nicht wenig Lust, hier und jetzt in diesen felsigen Trümmern ein Zelt aufzuschlagen und ein paar Tage zu bleiben. Rein kontemplativ. Allein mit dem zottigen Gras auf diesem vom Nebel bedampften Ungeheuer. Die freundliche Einladung von Onkel Gotthard, auch mal bei Sonnenschein vorbeizuschauen, nehme ich aber dankbar an. Das ist doch Ehrensache.

Dann meldet sich Brutus, mein angeblich freier Wille zu Wort:
Er: Wie weit mag es noch sein?
Ich: Wie weit wohin?
Er: Bis zur Passhöhe?
Ich: Keine Ahnung.
Er: Das Gelände ist hier ziemlich eben, oder? Wir müssten doch schon weit oben sein?
Ich: Das kann täuschen. Die Sicht ist und bleibt lausig.
Er: Wir sind aber doch auf dem richtigen Weg?
Ich: Ja, sicher. Es gibt hier doch nur diesen einen und einzigen Weg.
Er: Oder haben wir uns verirrt?
Ich: Mann, Mann, Mann, wenn Du mich nicht hättest. Kaum ist mal ein bissel Nebel, schon machste Dir in die Hosen.
Er: Niemals mach ich mir in die Hosen, bloß weil ich nicht sehen kann, wo`s langgeht, wo´s hingeht und wie´s ausgeht.

Stumm, vergnügt und heiter radeln wir jetzt weiter.

Wir tasten uns Meter für Meter voran und nur ein paar Minuten später stehen wir vor den Gebäuden der Passstation. Nebenan drei parkende Autos. Ein Wegweiser zeigt zur Via tremola. Sonst nichts. Stille. Nebel. Nichts. Warum fällt mir ausgerechnet jetzt dieser blöde Spruch meines ehemaligen Physiklehrers ein: Wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Warum Sie nichts sehen, sehen wir später. Ha ha ha.

Summa summarum ergeht folgender Beschluss: Wegen der schlechten Wettervorhersage fahr ich heute nicht wie geplant nach Italien, sondern mache mich sofort auf den Rückweg. Der Berg ist erobert, das Ziel ist erreicht. Es gibt keinen Grund, hier länger herum zu lungern. Wir haben heut auch noch was anderes vor.

Hoppele die Pflasterstrecke retour, erreiche wieder die Asphaltstraße und segle vorsichtig bergab bis sich der Nebel etwas lichtet. Löse jetzt die Bremsen und begebe mich also in den freien Fall. Mühelose Beschleunigung von null auf hundert in vier Sekunden. Grobe Schätzung. Bei 70 oder so bremse ich zurück auf etwa 30, um den grandiosen Blick, meinen kleinen Triumph und den gebührenfreien Antrieb der Schwerkraft ausschweifend genießen. Was für ein großartiger Blick hinunter ins steil hinabstürzende Tal: Und das bist Du wirklich schon alles hochgefahren? Ja, ja, ja, so ist es. Quod erat demonstrandum. Unglaublich. Huuraaaaaaaaaaah fliegen wir zurück nach Hospental und biegen erst mal ab in Richtung Furkapass.

Schon der schlichte Anblick sorgt für ein verschüchtert mulmiges Gefühl. Also, wenn das, was ich hier so andeutungsweise bei der Anfahrt zum eigentlichen Pass von hier unten aus nur so erahnen kann, also wenn das wirklich zutrifft, dann kann ich nur sagen, … dass ich dazu überhaupt nichts sagen kann. Ich bin jedenfalls sprachlos. Bestenfalls kommentiere ich ein „Um Himmels Willen“. Oder ein „Nein danke.“ Zur Not auch ein entsetztes „Aber ohne mich.“

Selbst mein ansonsten eher furchtloses Velo zittert und klappert ängstlich vor sich hin bevor es schamvoll zaudernd das weiße Tuch der Kapitulation vor mir in den Ring wirft.

OK, mach Dir keine Sorgen, wir wollten hier eh bloß mal schauen und nicht hochfahren, zumindest nicht heute. Nach der Euphorie am Gotthard und der Demoralisierung am Furka begeben wir uns zügig zurück nach Andermatt und kurbeln die ersten Serpentinen zum Oberalppass hinauf, das ist hier in der Gegend die Kindergartenvariante des Furka.

Denn Morgen möchte ich über den Oberalp in Richtung nach Hause fahren, nicht, weil ich keine Lust mehr auf die Berge hätte, sondern weil die Wetteraussichten für die nächsten Tage so :zensiert: sind. Heute möchte ich nur mal üben. Deswegen bin ich ja hier, zum Üben und zum Sammeln von Erfahrungen und deswegen fahr ich jetzt den Oberalp, mal nur so zur Probe.

Zunächst geht es ganz gut, man gewinnt rasch an Höhe, man blickt bald hinab auf`s Dorf und stellt fest, dass es die Schweizer nicht für nötig halten, hier eine Leitplanke oder ein kleines Mäuerchen oder wenigstens ein Fangseil entlang der Straße zu installieren. Sollte man, aus welchem Grund auch immer, einen halben Zentimeter vom Asphalt abkommen, gibt´s nichts zu rammen und auch nichts zu halten und man stürzt sofort und unwiderruflich den mit der Höhe immer unbarmherziger werdenden Abgrund hinunter, zerschellt an den paar Felsen und findet – zerschmettert und in seine Einzelteile zerlegt - ein wenig heldenhaftes Ende. Exitus. Mit Verlaub - das möchte ich vermeiden und halte deshalb in dem dichten Verkehr stur mindestens 30 Zentimeter Abstand zum tödlichen Abgrund. Ich nehme mir den Platz, den ich brauche, lasse mich nicht verunsichern und schon gar nicht bedrängen. Komme, was da wolle.

Aaaaaah ! Hilfe ! Ein kräftiger Schubs von hinten links und mein Rad schnellt plötzlich nach rechts Vorne auf den Abgrund zu. Einigermaßen sofort reiße ich den Lenker herum und rette mich zurück auf den Asphalt. Dieser erste Schreck sitzt mir noch gehörig in den Gliedern und schon drückt mich die nächste Windböe von hinten rechts mit einem Ruck nach links in die Mitte der Straße. Der Brummer, der mir entgegenkommt und auf mich zu hält, sieht sich aber nicht zum Bremsen, sondern lediglich zu einem empörten Hupmanöver veranlasst. Im vorletzten Moment reiße ich das Ruder herum und finde zurück in meine Spur am Fahrbahnrand. Hier ist es heute aber windig, heikel windig, denk ich noch so blöde vor mich hin und kaum hab ich tief Luft geholt, katapultiert mich hinterrücks der nächste Windstoß wieder gefährlich nah an den tödlichen Abgrund. Ich rette mich einigermaßen reaktionsschnell nur wenige Zentimeter vor dem Ende.

Nichts wie weg hier, stemme ich mich jetzt gegen den heftigen Wind von rechts, halte mit großer Kraft den Lenker fest in den Händen und werde doch immer weiter in Richtung Fahrbahnmitte gedrückt. So geht das eine ganze Weile unkontrolliert Hin und Her mit dem scheiß Wind und ich muss mal wieder zugeben, dass mir das Ganze doch schwer zu schaffen macht. Dass ich einen Anstieg fahre habe ich ja schon ganz vergessen, denn die Steigung ist bestenfalls noch eine Nebensächlichkeit. Ich habe jetzt definitiv andere Probleme. Ich hab ja nichts gegen Wind, aber warum muss er denn jede Sekunde aus einer anderen und unvorhersehbaren Richtung blasen, und dann auch noch so heftig. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll und halte an einem geeigneten Plätzchen erst mal an. Meine Betrachtung der Lage ähnelt der von gestern in der Schöllenen: Zurück? Ausgeschlossen. Weiterfahren? Auch Ausgeschlossen. Mein Gott, denk ich, was war denn der Gotthard vorhin für ein Kinderspiel. Nun gut, ich bin ja jetzt schon einiges gewöhnt und entscheide mich für´s weiter fahren und der Wind entscheidet sich für´s weiter stürmen.

Was soll ich am Ende des Tages sagen: Ich hab´s mal wieder überlebt. Oben auf der flachen Schlussgeraden – noch vor der Galerie - bläst mir der zunehmende Sturm so heftig entgegen, dass ein Weiterfahren unmöglich ist. Hier kehre ich also um, aber auf der Abfahrt zurück nach Andermatt schlottern mir nicht nur die Knie, sondern ich hab auch ganz gehörig die Hosen voll.

Dann sitze ich mental relativ erschöpft auf der Mauer vor einer geschlossenen Kneipe und bin unendlich glücklich, dass ich (trotzdem noch) lebe und beschließe, morgen Richtung Deutschland zurück zu fahren. Nicht, weil ich keine Lust mehr auf die Schweizer Berge hätte, sondern weil sich die desaströse Wettervorhersage zu bestätigen scheint: stürmisch und heftiger Regen. Das mit dem stürmisch habe ich ja eben schon kennen gelernt und das mit dem Regen, der jetzt wieder beginnt, kenne ich eigentlich auch schon. Vergangene Nacht ging dermaßen eine Sintflut nieder, dass ich dachte, direkt unter dem Wasserfall des Niagara übernachten zu müssen.