Re: Ach so, nur Schweiz

von: kettenraucher

Re: Ach so, nur Schweiz - 19.01.12 15:10

Hurraah! Ein paar Wochen später. Yippiieh! Fahr jetzt in die Schweiz. Ihr heiligen Berge, du göttlicher Gotthard – ich eile, ich komme. Yippieh yaayaa jipii jippieeh yeiyeiyeiiih. Das war jetzt aber nur die Überschrift.

Es regnet. Es ist kalt. Es ist Juni im Sommer 2011. Verwerfe den Ritt über die Schwäbische Alb und disponiere kurzfristig eine Anreise per Bahn. Das Ziel ist Lindau am Bodensee. Planmäßige Abfahrt 08 Uhr 02. Außerplanmäßige Information um 7 Uhr 50: Dieser Zug fällt heute aus. Es gibt aber eine Alternative bis Ulm und dort umsteigen. Die nehme ich. In Friedrichshafen ertönt der Beschluss der Bahn: Dieser Zug endet hier. Bitte alle aussteigen. Ein Ersatzzug steht bereit. Gesagt, getan. Nach einer Stunde bitte ich am Schalter um Neuigkeiten. Nein, es gibt keinen Ersatzzug. Der Lokführer hat sich offenbar geirrt und ist ohne uns nach Lindau gefahren. Begründung: Er hatte zu viel Verspätung. … ? … Hm.

OK, wir warten noch ´ne Stunde am Bahnsteig in Friedrichshafen und kein Zug fährt uns die paar Meter bis Lindau. Viele Fahrgäste sind inzwischen etwas ungehalten, sie rufen und schimpfen: Scheiß Bahn, Scheiß Deutschland, Scheiß Gewerkschaften, Scheiß Demokratie, Scheiß Wetter und überhaupt schuld an allem sind Die Da Oben.

Es regnet und regnet und regnet ergiebig. Mir ist kalt. Plündere den Proviantbeutel Semmel um Semmel und warte gelassen auf den nächsten Zug. Nachmittags um fast halb drei schiebe ich endlich mein Rad aus dem Bahnhof in Lindau. Gut sechs Stunden Fahrzeit für geschätzte 200 km Bahnreise von Stuttgart nach Lindau. Die Erklärung: Auf der Strecke zwischen Ulm und dem Bodensee gab´s mehrere Baustellen und ein paar Probleme wegen dem vielen Regen, die zu Verspätungen in beide Richtungen führten bis schließlich die Fahrdienstleitung den Überblick verlor und ein paar unsinnige Entscheidungen getroffen hat. Im Allgemeinen klappt das aber mit dem Zug nach Lindau, das möchte ich betonen.

Nach dieser außerplanmäßigen Verspätung und bei diesem außerplanmäßig ungemütlichen Wetter beschließe ich, hier in Lindau außerplanmäßig zu übernachten und außerplanmäßig erst morgen mit dem Radeln zu beginnen. Suche mir also außerplanmäßig eine Pension. Wollte noch den Radweg nach Bregenz erkunden, breche aber auf halbem Weg ab, weil es so stark schüttet, dass ich beim Fahren zeitweise kaum erkennen kann, welche Verkehrsteilnehmer mir entgegen kommen.

Trocken. Der nächste Tag scheint trocken. Der Hotelier verabschiedet mich mit besten Wünschen für eine gute Fahrt, jedoch zugleich mit der „ernsthaften Warnung vor den schweren Zusammenstößen zwischen Inline-Skatern und Rennradfahrern auf den Schweizer Velorouten aufgrund überhöhter Geschwindigkeit und mangelhafter Fahrtechnik.“ Er sei zu dieser Information aufgrund seiner Mitgliedschaft im ADFC verpflichtet. Ja, exakt so waren seine alarmierenden Worte.

Endlich in Fahrt: Lindau, Bregenz, Rheintalkanal, wähne mich in der Schweiz, staune deshalb über einen Hinweis zum FKK-Strand, bin aber noch in Österreich, erreiche St. Margrethen, bin jetzt also doch in der Schweiz, finde die Veloroute 4 und steige meinen ersten Berg hinauf. Mannomann, puuh, das zieht sich. Ist schon hügelig hier. Dieses Klischee kann ich jetzt bestätigen: Die Schweiz an sich ist durchaus hügelig. Die verbliebenen Wolken reißen auf, verschwinden ins himmlische Nichts und gönnen mir einen sonnendurchfluteten Blick in das saftige Grün ringsum und das Rheintal da unten, da weit, weit unten. Stark!

Ständiges Auf und Ab macht hungrig, kurz vor Hilden nehme ich gemeinsam mit einigen Handwerkern ein frühes Mittagessen in einer Gastwirtschaft ein. Will nur Kaffee, Wasser und Salat. Aber Mutter und Tochter des Hauses bestehen auf einer kräftigenden Suppe. Ob ich will oder nicht, die muss ich jetzt essen. Und ich gestehe, es war eine Wohltat, erstens kulinarisch und zweitens überhaupt. Stark! „Schöne Reise“, „Danke, danke, vielen Dank“. Es fühlt sich saugut an in der Schweiz.

Nicht immer verkehrsarme Straßen führen mich im Auf und Ab nach Appenzell. Hier liegt mein Etappenziel, bereits 70 oder 80 km nach Lindau, aber der Routinier schont halt seine Kräfte.

„Oi“ grüßen oder sagen hier die Leute ständig, „Oi“, „Oi“, „Oi“. Esse eine Bouillon mit Ei – Weltklasse – und eine Gerstensuppe. Spaziere durch den Ort. Fünf Tausend Einwohner. Abgebrannt 1560. Wieder aufgebaut. Es gibt vorkonfektionierten Wurstproviant zu kaufen. Mit und ohne Schnaps. Wähle die Variante ohne und fülle damit meine Vorräte auf. Eine Handvoll Reiter hinterlässt tausend Pferdeäpfel auf der kleinen autofreien Gasse im Zentrum der Stadt. Ein Haus zeigt mir Arzneipflanzen, kunstvoll und kenntnisreich auf die Fassade gezeichnet, voller morphologischer Details und mit botanischer Nomenklatur. Großartig. Unregelmäßiger Stadtgrundriss, Grundstücke kreuz und quer verschoben, kaum gerade Linien und Kanten, gefällt mir sehr gut. Fühlt sich gut an in der Schweiz.

Unterwegs per pedes eine kleine Kapelle. Entzünde ein Kerzenlicht für mich und meine kleine Reise und setze direkt daneben eine zweite Kerze für das Wohlergehen der Schönsten und Liebsten daheim. Will nicht so egozentrisch sein und entzünde eine dritte Kerze für all diejenigen, denen es in diesem Moment nicht so gut geht. Möge es ein wenig Trost und Hoffnung spenden und seine Wirkung entfalten. Die drei Lichter flackern empfindsam beim vorsichtigen Schließen der knurrigen Tür.

Zwei Wanderer mit großen Rucksäcken betrachten im Schaufenster des Metzgers die lustigen Proviantvariationen mit und ohne Schnaps. Auch ihre beiden Hunde tragen ihr Gepäck selbst, seitlich am Leib jeweils links und rechts ein Lederranzen, befestigt an Halteriemen um Rücken und Bauch, geschmückt mit der helvetischen Standarte, vulgo Fahne. Find ich lässig.

Betrete den Friedhof in Appenzell. Nicht weil ich ihn suche, sondern weil es sich zufällig beim Flanieren durch die Straßen so ergibt. Frage mich, weshalb die Gräber so klein sind. Kaum 1 mal 1 Meter. Zu groß für Urnen, zu klein für Menschen. Keine Kindergräber, erwachsene Leute liegen hier begraben, viele sind jung gestorben, mit dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahren. Eine Schweizerin fragt mich, weshalb die Gräber hier alle so klein sind. Nunja, das frage ich mich auch. Wer von uns beiden kommt denn aus der Schweiz? Wenn Sie´s nicht wissen, frag ich. Hab keine Ahnung und auch keine Idee. Ratlos wünschen wir uns einen schönen Tag.

Wir – das sind mein Velo und ich – erkunden die Umgebung. Nichts als wellige Hügel, kurz geschorenes Grün, in die Landschaft gestreute Bauernhöfe, keine Kühe, ich sehe keine Kühe, aber so einige schroffe Felsen und Gebirge.

Fauchend erschrickt und überholt mich ein rasender gelber Lamborghini. zensiert.

In einer kleinen Wirtschaft zapft man frisches, kräftiges Bier, Appenzeller Hell Lager, lasse ich mir sagen. Freundliche Männer und Frauen sitzen hier trinkend und zufrieden in der Sonne und rauchen. Grüezi. Es gibt Hanfbiersuppe, Oi, weischd. Oi. Oi. Schön isses hier. Sehr entspannt isses hier. Und heiter!

Unterwegs im Appenzeller Umland sehe ich saumäßig viele E-Bikes, sogar Mountainbikes mit E-Antrieb, aber auch Tourenradler mit elektromotorischer Unterstützung. Nicht nur alte, auch junge Leute fahren diese stromgetriebenen Mofas so selbstverständlich als hätte es nie was anderes gegeben. Nase rümpfen ist hier nicht angesagt. Die Schweizer, glaub ich, sind nicht so klein-klein kariert wie so viele von uns und ähem ich natürlich auch, manchmal, hüstel, ach was.

Beim üppigen Abendessen in einer Gaststube im Herzen der Stadt freu ich mich darüber, dass an einem Nachbartisch italienisch gesprochen wird. Es sind natürlich keine Italiener, sondern italienisch sprechende Schweizer. Das hat schon was, ein Land, das gleichzeitig deutsch, französisch und italienisch spricht. Das klingt schon multikulti, es hat Esprit oder ist es Charme, es hat jedenfalls das gewisse Etwas. Ja, zweifellos, mir gefällt´s hier in diesem großen, kleinen Land.

Boing boing bimmel limmel bengel boing boing bimmel limmel bengel boing boing …

Ein ohrenbetäubender Lärm schreckt mich im Morgengrauen aus dem Bett. Der Blick aus dem Fenster gibt Aufschluss und beschert mir eine stattliche Herde kräftiger Rinder, die über den Dorfplatz flitzen. Die Tiere toben durch die Gassen und nicht alle kennen den Weg. Scheint nicht so einfach zu sein, die Herde beisammen zu halten. Die Hirten haben alle Hände voll zu tun und treiben die Viecher per Klaps mit dem Holzstock in eine halbwegs gemeinsame Richtung.

Stelle fest, es gibt also doch Kühe in Appenzell. Gestern hat man sie wohl versteckt, um sie mir heute in einem kleinen touristischen Spektakel exklusiv zu präsentieren. Dankeschön, wär nicht nötig gewesen. Ist zwar witzig, bin jetzt aber auch wach. Frühstück gibt´s schätzungsweise erst in zwei Stunden. Und was soll ich bis dahin machen, bitteschön? Viel Zeit für hundert Liegestütze und ein paar andere gymnastische Übungen für radelnde Senioren.

Also wenn ich Kuh oder Stier oder Rind oder Kalb wäre: Ich würde mich keinen Millimeter vom Fleck bewegen, wenn man mir so´ ne scheiß Glocke um den Hals hängen würde. Undenkbar, bei jedem Schritt einen solch infernalischen Lärm ertragen zu müssen. Grrrr.

Jetzt, im Nachhinein weiß ich natürlich, in Andermatt sehe ich Ähnliches, aber dort sind die Viecher tausend Mal athletischer. Und sie verzichten auf Umtriebe bei Sonnenaufgang, sondern joggen urlauberverträglich mit ihrem Gebimmel erst nachmittags durch´s Dorf.

Das war´s für heute. Vielen Dank und beste Grüße.