Re: Große Alpentour der 2000er

von: veloträumer

Re: Große Alpentour der 2000er - 16.11.08 23:01

Teil 2: Die Zentralalpen

Mi, 29.6. Poschiavo – Berninapass (2328m) – Pontresina – Zuoz
[54 km – 4:42 h – 11,4 km/h – 1335 Hm]

Morgens beginne ich gegen 7:20 Uhr bei eher schwüler Luft. Leichtsinnig schlage ich in Poschiavo ein Frühstück noch aus, danach kommt unglücklicherweise keine Gelegenheit mehr, auch keine Bäckerei kann ich in San Carlo ausfindig machen. Ich fühle mich matt und müde, der erfolgreiche Vortag hat seinen Tribut gefordert und die Kraftreserven sind erschöpft – zumindest für einen so schwierigen Berg, der mit konstant 10-12% keine Ruhepause bietet. Eine erste Rast am Straßenrand zum Pflücken von Walderdbeeren ist mehr zeitaufwändig als dass sie mir neue Kräfte verleiht. Das häufige Anhalten mit erneutem Anfahren drückt nicht nur mein Tempo, sondern verbraucht auch weitere unnötige Kraftressourcen. Im Bistro an der Straße bei Piscadello bekomme ich ein Sandwich aus Sauerteigbrot und Schinken, das ich aber nur runterwürgen kann. Kräfte gewinne ich dadurch auch nicht.

Ich quäle mich weiter hinauf. Mittlerweile hat sich der Himmel von allen Seiten zugezogen. Eine kleine Zwischenebene in La Rosa erfordert schließlich eine Gewitterpause. Der Versuch mit einer kleinen Nudelportion und gespritzten Apfelsaft meine Kräfte zu mobilisieren, scheitert erneut. Ich könnte im Restaurant einfach einschlafen, so fallmüde bin ich. Doch treibt mich die nächste Regenpause wieder weiter. Kaum habe ich die nächste Steigung anvisiert, trommelt und donnert der Himmel erneut. Von Westen verstärken zusätzlich Flak-Böller der Schweizerischen Armee das Getöse. Ich befinde mich bereits weitgehend schutzlos oberhalb der Baumgrenze. Das Gewitter setzt sich erneut durch. Alle Regenhüllen raus und doch zu wenig Abdeckung. Ein Bauwagen liefert mir den nötigsten Schutz vor dem Schauerwasser. Es ist ungenehm kühl, die dicke Regenjacke beginnt ihren Dienst anzutreten, der Sommer scheint verschwunden.

Noch im dünner werdenden Regen starte ich wieder. Zwei Kehren weiter steht wieder ein Zöllner in der Landschaft (Es hätte eine Überdachung gegeben). Hier ist die Grenze zu Italien in Richtung Livigno – also die Stelle wo die alternative Bergverbindung von Bórmio aus rauskommt. Auch jetzt kann ich keinen Rhythmus finden, die Atmung fällt schwer, das Zwerchfell blockiert, das Essen und die Kohlensäure machen sich negativ bemerkbar. Meine Geschwindigkeit liegt um 1,5-2,5 km/h niedriger als am Stilfserjoch – teils, weil steiler, teils aber eben wegen der schlechten Tageskonstitution.

Noch immer böllert lautstark die Schweizer Flak. Fast meine ich, dass sie den Himmel freischießen, denn ein wenig Sonne wagt sich wieder hervor, ich kann die Regenjacke wieder zurückstecken. Bei dieser Aktion kommt ein Werbeauto von Red Bull mit der übergroßen Dose hinten drauf an mir vorbei. Zwei hübsche Girls sind begeistert und haben ein wenig Mitleid für meinen schweren Aufstieg. Ich bekomme eine Dose Red Bull geschenkt – ein Getränk, dass ich noch nie probiert habe. Ich stecke es zunächst in meine Tasche, zumal Kohlensäure drin ist – also nichts für angespannte Tourmomente. Immerhin puscht mich die fröhliche Begegnung zu einem finalen Kraftakt zur Passhöhe.

Die gigantische Berg- und Gletscherwelt schafft ein tolles Panorama am Berninapass. Das Hospiz liegt etwas unter der Passhöhe auf der Nordseite. Noch kann ich Kuchen und Capuccino draußen genießen, doch dann treibt kalter Wind und ein wenig Regen meinen Schweizer Gesprächspartner und mich in die Innenräume. Der Radler aus Winterthur mit kleinem Gepäck ist eine Woche unterwegs und kam über die Livigno-Route. Eine holländische Rennradgruppe ist gut aufgelegt und macht ihre Späße.

Kaum habe ich das Hospiz hinter mir gelassen, tritt die Berninabahntrasse hinter den Bergen hervor. Sie verläuft jetzt teilweise direkt neben der Straße, die ein relativ geringes Gefälle aufweist. Radler aus Richtung Engadin können den Berninapass auf der Nordseite also recht einfach bezwingen. Etwa auf halben Weg in Richtung Pontresina dann das Highlight des Berninapasses: Eine Ureislandschaft zeichnet linker Hand das Bild vom Morteratsch-Gletscher. Die Perspektiven wechseln meterweise, einer atemberaubender als der andere. Blicke durch ein Fenster aus knorrigen Kiefern verstärken das Bild einer Urlandschaft, in der nur noch lebendig wandelnde Mammuts fehlen. Bei so viel Wunderwelt kann schon mal das Auge feucht werden. Besondere Bilder entstehen zusammen mit der Eisenbahn, wenn der rote Zug der Rhätischen Bahn in der Kurve den Farbtupfer in das Bild setzt. Personen- und Güterverkehr sind hier übrigens gekoppelt.





Pontresina ist eine Mischung aus mondänem Ferienort und Engadiner Baukunst. Es herrscht enormer Trubel und ich durchfahre ein Zielbanner für Radler in umgekehrter Richtung. Die Jeantex-Transalp-Tour hat hier heute ihr Etappenziel. Sie kommen genau in meiner Gegenrichtung, also vom Albula her. Überall sieht man Radler verbissen an ihren Rädern schrauben und putzen. andere versuchen mit dem Handy ihre Zimmerpartner ausfindig zu machen. Zum Glück habe ich hier nicht mein Etappenziel, denn es wäre sicherlich kein Übernachtungsplatz mehr zu bekommen – weder in Hotel noch Jugendherberge.

Es sind lediglich 5 Kilometer bis zum noch nobleren High-Society-Dorf St. Moritz. Auch wenn es das eine oder andere Dorfidyll zu sehen geben könnte, ist der mondäne Luxus des Wintersportortes für mich nicht interessant. So umfahre ich die kurze und höchst einfache Passage nach Silvaplana auf die höchst schwierigste Art in einer Tagesetappe über Albula und Julier. Zunächst geht es Richtung Nordost am jungen Inn entlang durch das Engadiner Hochtal, das hier geradezu kein Gefälle hat (zischen den über 25 km zwischen Maloja und Zuoz sind es lediglich 100 Hm). Das Tal ist breit, die Straße schnurgerade und verkehrsreich und der Himmel tief wolkenverhangen, wenig reizvoll und im depressiven Grau gehalten. Noch etliche Radler der Transalp-Tour begegnen mir, im Kampf um die verlorenen Minuten wirken einige ganz apathisch.

In La Punt, dem Ort an der Auffahrt zum Albula, beginnt es zu regnen – zunächst nur leicht. Obwohl der Albula für mich zeitlich noch zu schaffen wäre, z.B. bis Bergün, machen die dunklen Gewitterwolken eine Weiterfahrt unmöglich. Das Etappenziel Savognin hätte ich aber auch bei guter Witterung nicht mehr erreicht. Ein Hotel direkt vor dem Bahnübergang und gleich an der steil ansteigenden Albulapassstraße weckt meine Hoffung auf ein Ende des etwas verkorksten Tages. Die Zimmerpreise von 85 SFr (56 €) liegen jedoch über meinem Limit. Ich versuche zu verhandeln, die Dame ist jedoch darüber empört – die Zimmer seien schließlich gut und entsprechen diesem Preis. Da ist sie nun, die Schweizer Sommerfalle für den „armen“ Deutschen – schlechtes Wetter, der die spontane Hotelunterkunft verlangt und die Schweizer Hochpreise bekommt. Ich versäume über den Bahnübergang zu schauen, dort werde ich am nächsten Morgen eine Unterkunft für 55 SFr (36 €) ausmachen. Ich fahre aber über die Brücke, wo noch ein Hotel steht, dass aber schon äußerlich einen noch exklusiveren Eindruck machte – Einzelzimmer kosten 115 SFr (76 €).

Mittlerweile regnet es heftig und es nahezu nachtdunkel. Im Supermarkt kaufe ich noch ein paar Kleinigkeiten und warte zunächst. Schließlich starte ich noch mal durch den Regen Richtung Zernez. Es folgen jetzt einige kleine Orte im kurzen Abstand und vielleicht finde ich eine preiswertere Unterkunft – in Susauna (ca. 10 km) soll es auch eine Jugendherberge geben. Doch der Regen wird schon bald wieder stärker, das Gepäck droht trotz der Regenhüllen zu durchnässen und ich selbst finde auch keinen Gefallen mehr am nasskalten Regentrip. Mir fallen immer wieder die seltsamen Namen in Romantsch (Rätoromanisch) auf. Fast alle Häuser tragen Namen. Manche Wegweiser sind sogar nur auf Romantsch.



In Zuoz schließlich stehen zwei wunderschön bemalte Gasthäuser gegenüber – wieder wohl nicht billig. Aber immerhin bekomme ich ein Zimmer (mit Etagendusche) für 70 SFr (46 €) – das ist nur noch leicht über meinem Standard-Limit von 40 €. (Manchmal akzeptiere ich auch schon 45 € und für die Schweiz sollte man ohnehin etwas drauflegen). Nicht nur äußerlich wirken diese Engadiner Häuser kunstvoll und behaglich, auch im Innern vermitteln die nie ganz geraden Wänden und gewölbte Decken ein heimeliges Wohngefühl. Kein Hotelgang auf den Etagen, sondern rundum angeordnete Zimmertüren sind von einem noblen und geräumigen Etagenraum aus zugänglich. Die Einrichtung ist antiquarisch, das Waschbecken stilgerecht altertümlich und zu hoch, die Etagenduschen bescheiden. Durch die kleinen Fenster trommelt der Regen auf das Pflaster und wirkt mit diesem Ambiente nun wie das beruhigende Rauschen, das nach der Arbeit die Seele beruhigt.

Im Restaurant speise ich köstlich – die Engadiner Küche ist um einige Raffinessen bemüht. Zu hausgemachten Spätzle gibt es Rehpfeffer, als Nachtisch Melonengelatine mit Lakritzsauce und Rosenölschaum. Nach einer Plauderei mit einem Schweizer Unternehmer und zwei deutschen Motorradfahrern entschlummere ich nebst Regengeplätscher in einen neuen Tag.


Do, 30.6. Zuoz (1716m) – Albulapass (2321m) – Bergün – Tiefencastel (851m) – Julierpass (2284m) – Silvaplana (1795m) – Maloja
[103 km – 7:35 h – 13,4 km/h – 2080 Hm]

Die Nacht war noch regenreich, das Fernsehen meldet sogar Überschwemmungen aus Deutschland. Der Sommer sucht überall nach seiner Identität. Nach sehr gutem Frühstück bemustere ich noch einige der bemalten Häuser im Ort, unorthodoxe Fenstersimse geben jeder Häuserfront eigene Gesichter, schmucke Metallfiguren vor den Häusern bilden Handwerksberufe ab. Zuoz gehört zu den schönsten Orten im Engadin, ist jedenfalls urtümlicher und schmucker als Pontresina, St. Moritz und andere Orte. Im Hotel befindet sich unten auch ein Feinschmeckerladen mit Wein, Schinken, Käse und Konfiseriewaren, wo ich unter schmerzlichem Verzicht auf schokoladige Köstlichkeiten nur ein Birnenbrot erwerbe.

Ich fahre nun die 3-4 km zurück nach La Punt. Im kühlen Hochtal schweben noch die Dunstwolken von der Regenfeuchte. Langsam lösen sich erste Bereiche in der Morgensonne auf. Die Wolken bilden seltsame Strukturen, die Lichteffekte sind von künstlerischer Gestalt, das Grün der Wiesen leuchtet erstmals auf, die Kühe genießen das saftige Gras. Bei La Punt beginnt gleich die heftige Steigung in Serpentinen. Die Schweizer Armee ist auch schon dabei, laute Artillerie abzufeuern – es kracht durch die Berge als wäre Krieg. Ungestört davon sind die Murmeltiere beim Frühstück und organisieren mit ebenso militärischem Drill ihre Gefahrenmeldungen – ein lautes Pfeifkonzert und bald sind alle in ihren Eingängen verschwunden – der Fototourist hat keine Chance. Über den locker mit Kiefern und Lärchen bewaldeten Hängen breitet sich eine herrliche Morgenstimmung mit tiefem Blick ins Tal aus. So komme ich gut voran und bald wird die Straße flacher, wendet sich vom Tal ab. Das Murmeltiergepfeife wird nun durch ein Kuhglockenkonzert angereichert, Senner und Hunde treiben die Kühe auf der anderen Berghangseite voran. Eine sehr vielfältige Blumenwelt von überwiegend alpinen Lippenblütlern schafft einen farbenfrohen Teppich, dahinter baut sich eine steinerne Mondlandschaft insbesondere in Richtung Passhöhe auf.





Die Schweizer Flak dröhnt schließlich wieder laut, erschreckt mich gar, eigentlich sollten Passanten hier Ohrschützer erhalten – die Soldaten nun sichtbar und sogar ein Sicherheitsposten, der den Verkehr für eine kurze Weile wegen der Militäraktivitäten anhält. Am Hospiz auf der Passhöhe schwärmen erste Wanderer in die Bergwiesen aus, ein paar Gäste nehmen zum Kaffee Platz. Unter diesen ist ein Mann mittleren Alters, der an den Rollstuhl gefesselt ist. Er möchte ein Red Bull, das die Gastwirtin aber nicht anbieten kann. Ich erinnere mich der Dose des Vortages, die noch in meinem Gepäck steckt. Ich biete ihm meine Red Bull. Er fängt an zu lachen. „Da schleppen Sie die Dose den Berg hoch und wollen sie auch noch verschenken.“ Er lehnt ab, obwohl ich ihm noch erzähle, dass mir an dem Getränk nichts gelegen ist. Er glaubt, ich brauche die Energie, ist von meiner Leistung beeindruckt und gibt zu Verstehen, dass er selbst früher Leistungssport betrieben hat.

Noch immer ist es kühl auf der Abfahrt. Wenig unterhalb der Passhöhe kreuze ich nun mehrfach die Albulabahnstrecke, die in irrwitzigen Kurven, Tunnelpassagen und Brücken über wilde Wasserkaskaden durch das enge Tal, eher Schlucht, führt. Ein tiefgrüner Bergsee strahlt eine idyllische Ruhe aus. Dort zieht ein Vater seinen kleinen Sohn im Hänger nach oben, die Frau folgt wenige hundert Meter später. Das ist nicht das erste Mal, dass ich solche Kinderhänger in den Bergen gesehen habe. Z.B. letztes Jahr am Col de Peyrol im französischen Zentralmassiv oder vor vier Jahren im hitzegetränkten Andalusien.





Nach dem herrlichen Szenario der Abfahrt erreiche ich Bergün, ein höchst pittoresker Bergort, in dem die aufwändig restaurierten Häuser den Höhepunkt der romantschen Baumalarchitektur markieren. Eine Schulklasse ist dabei, die Einzelheiten der Fassaden mit dem Zeichenstift festzuhalten. An dem Brunnen gegenüber eines solchen als Restaurant hergerichteten Hauses probiere ich nun endlich dieses Getränk namens Red Bull. Ich staune – es schmeckt nach einer Mischung aus Cola und Dieselkraftstoff – wie kann so ein Gesöff sich als eines der populärsten Getränke und sogar als ein Sport-Energiedrink am Markt halten? – Der Rest ist schnell im Gully. – Abscheulich!

Auf dem weiteren Weg nach Tiefencastel bemerke ich etliche Campingplätze, die nicht auf der Karte verzeichnet sind. Auch die Hotelpreise sind hier wieder etwas niedriger als im Engadin. Bei Tiefencastel hat sich das Tal geöffnet, weite, gewölbte Wiesenhügel kennzeichnen die Szenerie und die Sonne prallt hochsommerlich vom klaren Himmel. Dennoch ist die Luft eher kühl. Gleich im unteren Teil Richtung Julier sorgt ein bissiger Gegenwind für eine zähe Fahrt. Das Tal ist zunächst ohne großen Reiz, der Verkehr nicht ganz so stark wie erwartet. Auf steilere Stellen folgen immer wieder Flachpassagen oder gar Zwischenabfahrten wie bei Savognin. Das macht die Auffahrt zum Julierpass zu einer langwierigen und ziemlich schwierigen Angelegenheit. Vor einem Stausee zieht sich ein langes Hochtal mit schönen Wiesen und dunklen Nadelwaldhainen. In einer geschützten Nische pausiere ich einen Weilchen, der Fluss hat jedoch zu wenig Tiefe zum Baden. Erreicht man die offene Berglandschaft beim Wintersportort Bivio und glaubt sich dem Pass nahe, verlängern erneut Flachpassagen den Weg und die Passhöhe taucht zweimal vermeintlich auf, ist es aber noch nicht. Da insgesamt noch wesentliche Höhenmeter fehlen, werden mir die letzten Kilometer zur Qual, es geht ähnlich mühsam voran wie am Valparolapass in den Dolomiten. In der Mondlandschaft der Passhöhe gibt es nur einen Kioskcontainer, der aber nicht mehr geöffnet hat. Diesmal bekomme ich keinen Aufkleber für meine Trophäensammlung. Die Abfahrt ins Engadiner Hochtal ist kurz (immerhin liegt Silvaplana auf über 1800 m.ü.M.). Ich erschrecke ein wenig über meine Geschwindigkeit. Auf der Geraden nach unten erreiche zeitweise 79 km/h – ein durchweg untypischer Wert, denn meistens ist bei 60-65 km/h Schluss. So muss ich mich zwingen, an einer Schleife oberhalb Silvaplanas kräftig zu bremsen – denn hier schweift durch die Kieferbäume ein herrlicher Panoramablick über den kleineren Champfèrer See und den größeren Silvaplaner See. Die Seen liegen ganz plan und still von ganz eigenem Charakter in dieser lang gezogenen Hochebene. Nach Osten erkenne ich am Berghang einen Palastbau von St. Moritz, der gesamte Ort ist jedoch nicht einsehbar.

Da ich noch Zeit habe, fahre ich am Camping von Silvaplana vorbei und flach weiter bis Maloja, wo sich auch ein Camping befindet. Eine kurze Landbrücke unterbricht die Seefläche zum Silser See, der der größte der Seen ist. Gegenüber kann ich die charakteristischen Türme des exklusiven Kurhotels Sils Maria ausmachen. Dahinter streben die Berggipfel gegen den Himmel, z.T. noch mit Schnee bedeckt. Durch den kühlen Abendwind ist der Silser See etwas aufgeraut, doch bleibt das Gefühl entrückter Ruhe. Am Ortseingang Maloja führt ein asphaltierter Weg zum Camping am See. Es ist jetzt bereits unangenehm kühl und die Nacht dürfte eine kleine Mutprobe werden. Am Ortsanfang finde ich ein sehr schönes Panoramarestaurant (mit Hotel), wo man den wunderbaren Blick über diese eigentümliche Hochtallandschaft genießen kann. Das Restaurant hat sich auf Maronengerichte spezialisiert, etwa Maronen-Nudeln und -Spätzle. Ich denke noch, wie bequem es wäre nun im Hotel im Warmen zu entschlummern und beim Frühstück den Panoramablick zu genießen – aber ich habe mich ja für die harte Variante entschieden.




Fr, 1.7. Maloja – Malojapass (1815m) – Chiavenna (333m) – Campodolcino – Splügenpass (2113m) – Splügen – Thusis
[107 km – 7:39 h – 13,9 km/h – 1813 Hm]

Die Romantik hat irgendwo seine Grenzen. Z.B. wenn in der eiskalten Nacht über dem Zelt bis zu drei Gewitter gleichzeitig toben und ein gesunder Schlaf schier unmöglich ist. Immerhin, die Salewa-Zeltplane hat gehalten. Morgens ist es jedoch bei heftigem Wind enorm kalt. Ich bekomme kaum meine Sachen halbwegs trocken verstaut, weil immer wieder kleine Regenschauern bei kaum überdachten Unterstellmöglichkeiten meine Abreisebereitschaft verzögern.

Als ich alles verpackt habe, lädt mich ein Schweizer Urgestein auf einen Kaffee in seinen Wohnwagen ein. Er kommt seit 20 Jahren auf diesen Platz und ist passionierter Angler. Er erzählt mir einige Geschichten aus seinem Campingleben. Z.B. hat er einmal eine junge Radlerfrau, kaum mit Schutzkleidung ausgestattet, aus dem winterlichen Engadin ins Tal gefahren, weil die Verhältnisse für eine Abfahrt zu gefährlich waren. Eine Verrückte so wie er auch mich augenzwinkernd als Spinner bezeichnet – z.B. mit dem 35-kg-Rad von Zuoz nach Maloja zu fahren und dabei den Umweg über Albula und Julier zu wählen – und solche Sperenzien auch noch auf fünf Wochen auszudehnen. In vielen Sommern sei hier auf 1800 m Höhe der Winter nicht fern. Er sei schon oft morgens auf Glatteis ausgerutscht. Auch Schneefall kommt immer wieder vor. Es gibt hier im Hochtal auch keine warme Luftströmung und die Seen können nicht genügend Wärme speichern um ein mildes Klimat zu schaffen. Dann schwärmt er von der Faszination, stets Neues am immer wieder gleichen Ort zu entdecken. Der See, der nie gleich ist, die Berge, mal wieder eine neue Blume zu entdecken. Schließlich kommen wir noch auf die Murmeltiere zu sprechen. Ich erwähne die pfeifenden Nagetiere und bekomme eine Nachschulung. Murmeltiere pfeifen nicht, sie bellen. Das Organ und die Art der Organbewegung entsprechen dem Bellen wie es auch Hunde tun. Der Ton ist aber trotzdem dem Pfeifen nahe oder auch dem Schrei der Greifvögel. Der Streit bleibt da, ob ein Bellen, das pfeift, ein Bellen oder ein Pfeifen ist.

Nun, der Wind und Regen lässt etwas nach und ich starte gegen 8:50 Uhr. Der Malojapass ist nicht auszumachen, denn nach dem Ort Maloja fällt die Straße nach unten ohne dass sie zuvor ansteigt. Ein geschenkter Pass also, der aber in umgekehrter Richtung durchaus schwierig ist. Eine Gruppe von Radlern mit Mountainbikes rüstet sich zur Abfahrt. Wir starten fast gemeinsam. Bald bleiben sie doch alle hinter mir zurück. Die Straße ist oben noch etwas feucht, bald aber weitgehend trocken, Winde habe ich schon stärker erlebt und eine besondere Sicherheitsabfahrt nicht nötig. „Sind wohl keine erfahrenen Passfahrer“, denke ich mir, als ich in Borgonuovo mich des langen Beinkleides und der Windjacke entledigen kann und immer noch niemand in Sichtweite ist.



Im Bergelltal hätte es etliche günstige Unterkunftsmöglichkeiten und auch auf der Karte nicht verzeichnete Campingplätze gegeben. Die Gewitter der Nacht haben hier wohl nicht gewütet. Hätte ich‘s geahnt, wäre ich am Vorabend noch die Abfahrt angegangen. Die Landschaft durchstreife ich in schönen Kehren, halblichter Wald macht den Blick frei für die vielen rund ausgeformten Becken im Flüsschen Mera. Wenn auch das schweizerische Bergelltal schon italienisch anmutet, so fällt die Grenze bei Castasegna doch noch auf: In Italien ist immer etwas mehr los auf den Straßen und in den Orten, das Volk ist einfach lauter als die eidgenössischen Nachbarn. Ein besonderer Blick ergibt sich in Borgonuovo: Zwei über mehrere Stufen parallele Wasserfallstrahle sind genau durch eine Häuserflucht hindurch an der direkt dahinter aufragenden Bergwand zu sehen – so als würde das Wasser auf die Dächer abregnen.

Noch immer von den Bergen eng eingefasst ist das bereits auf nur noch 333 m.ü.M. liegende Chiavenna. So verbinden sich hier grün bewaldete, steile Berghänge mit einem südländisch ansprechenden Ortsbild und dem rauen Bergfluss, der von mehren steinernen Bogenbrücken überspannt wird, zu einem herrlichen Stadtpanorama. Die Geschäfte und das Ambiente der Straßencafés erwecken den Eindruck einer wohlhabenden Stadt. Mit Leckereien aus der Konfiserie verbringe ich eine kleine Pause in der schwül-warmen Luft, der Himmel noch bewölkt.



Kaum habe ich die Stadt über die sogleich steil ansteigende Straße zum Splügenpass verlassen, reist der Himmel auf und es wird gleich hochsommerlich heiß. Das Val San Giacomo ist noch enger als das Bergell, ein schluchtartiger Flusslauf und doch leuchtend grüne Hänge mit Blumenwiesen prägen den ersten Teil. Wegen der auf relativ kurzer Strecke zu überwindenden knapp 1800 Hm ist der Splügenpass einer der schwierigsten großen Alpenpässe (vom Süden her), auch wenn die Gesamthöhe mit 2113 m nicht so furchteinflößend erscheinen mag. Nicht nur die Hitze-Steilkehren-Kombination raubt mir schnell meine Kräfte, auch ein subtiler Gegenwind erschwert meine Auffahrt. Ich mache regen Gebrauch von den vielen Trinkwasserbrunnen, die den Weg begleiten.

Am Ortsausgang von Campodolcino – das eine kleine Flachpassage zum Verschnaufen bietet – bin ich etwas verwirrt. Es gibt eine flussnahe, flachere Variante (SS 36) und eine wohl gleich ansteigende Route, die mit einem Tunnel beginnt (SS 36 direkt), und außerdem zu einem Ferienort Madésimo, der aber eine Sackgasse markiert. Tatsächlich zweigt diese Abfahrt aber erst einige Kilometer später von der SS 36 direkt ab, und zwar dort, wo die ein Kilometer längere Alternativstrecke über Isola sich mit der S 36 direkt wieder vereinigt. Ich entscheide mich richtigerweise für die SS 36 direkt. Sie ist deswegen zu empfehlen, weil gerade in diesem Abschnitt die atemberaubend engen Kehren mit kleinsten Tunnels ein alpines Straßenlabyrinth in den Berg frisst, das den Splügenpass auch zu einem der attraktivsten Pässe werden lässt. Hier müssen alle höllisch aufpassen, denn nicht nur für Auto an Auto sind viele Stellen zu schmal, sondern auch Rad und Auto sind manchmal nicht nebeneinander fahrbar. Der Gegenverkehr ist kaum einsehbar. Dazu kommt noch ein schlechter Straßenbelag (Achtung für Abfahrer!).





Von Boffalora hat man von einer kleinen Aussichtsplattform einen besonderen Blick auf dieses Galerie-Kurven-Labyrinth, der durch den Wasserschleier eines Wasserfalls und die am Steilhang schmückenden Blumen angereichert wird. Nunmehr, da die Steigung nicht weniger wird, geht es durch offene Bergwiesen mit halboffenen Galerien weiter. Der Gegenwind bei der Auffahrt ist mittlerweile recht heftig und die Temperaturen sind deutlich auf dem Rückmarsch. Am Lago di Montespluga ist es dann schon bibbernd kalt. Am Ende des Sees gibt es in Montespluga die letzten Unterkunftsmöglichkeiten nicht in nur in Italien sondern auch die letzten bis Splügen. Ich erhalte hier meinen Aufkleber und selbst gemachte Heidelbeerbonbons. Der Wind ist so bissig, dass ich nur windgeschützt hinter einer Häuserwand einen Riegel essen kann. Das Rad wird vom Wind umgerissen und bei der weiteren Auffahrt muss ich wegen des heftigen Windes ein paar Mal das Rad anhalten um die Balance zu behalten. Es ist fast wundersam, das ich die Passhöhe überhaupt gegen den Wind erreichen kann. Dort gibt es einen Grenzposten (Grenze Italien/Schweiz, EU-Außengrenze), sonst aber nichts. Der Himmel ist mittlerweile dunkel bewölkt, die Luft eiskalt und der Wind eigentlich unerträglich. Ein holländischer Radler befindet sich gerade in umgekehrter Richtung fahrend auf dem Pass. Ich rate ihm ganz ins Tal bis nach Chiavenna zu fahren, weil es sonst überall zu kalt ist. Nach Norden erkenne ich nur Anti-Sommer. Mit Mühe kann ich mir im Schutz des Zollhäuschens meine lange Hose und die dicke Regenjacke überstreifen.

Auf der Abfahrt muss ich besondere Vorsicht walten lassen, denn der Wind macht nicht nur die Kurvenfahrten riskant, sondern treibt auch die Kälte so unter die Haut, dass ich mich fröstelnd schütteln muss. In Splügen angekommen, ist es kaum besser. Ich muss mich erstmal im Windschutz von Häusern ein wenig aufwärmen. Die Hände sind leicht taub und der Schüttelfrost will nicht mehr aufhören. Es ist aber auch noch zu früh für ein Etappenende.



Die nun anstehende Fahrt das Hinterrheintal hinunter ist mir bereits von meiner 2002er-Tour bekannt, die ich über den San Bernardino durch das Rheintal zum Bodensee hin abgeschlossen hatte. Doch war damals das Wetter wesentlich sommerlicher und die herrlichen Lichteffekte in den Wasserschleiern von den Wasserfällen in der Rheinschlucht kann ich unter diesem Himmelsgrau nicht nochmal wiedererleben. Im Wechsel aus Flachpassagen und Schussfahrten erreiche ich bald die Via Mala, die schon fast im Dunklen liegt. Vor Thusis kommen zwei Tunnels. Wenn ich noch weiterfahren wollte, müsste ich eine Hotelunterkunft z.B. in Rhäzuns oder Bonaduz nehmen. In Thusis gibt es eine Jugendherberge und doch entscheide ich mich bei dem weiterhin kühlen Wetter für den unter hohen Fichten liegenden Campingplatz. Die Nacht wird wieder unangenehm kühl und ich schlafe auch nicht optimal. Zum Abendessen besuche ein Restaurant mit Rösti-Spezialitäten, das auffallend leer ist wie offenbar die meisten Restaurants – obwohl ja eigentlich Hochsaison ist. Wie noch einige Male mehr in der Zentralschweiz, sind die Gerichte nicht so teuer, aber sie lassen auch etwas die Qualität vermissen, die man in einem solchen Service-Touristenland Schweiz erwartet. Man gibt sich wenig Mühe für die Zubereitung. Und dafür ist das Preis-Leistungsverhältnis dann doch eher ungünstig. Die Schweiz ausgerechnet im Tourismus im Abstieg begriffen?


Sa, 2.7. Thusis – Bonaduz (655m) – Versam – Ilanz – Disentis – Oberalppass (2040m) – Andermatt (1447m) – Hospental
[104 km – 7:20 h – 14,2 km/h – 1757 Hm]

Nach kühler Nacht folgen Wolken und kühler Wind auch am Morgen. Ich verspüre kleine Magenkrämpfe, die wohl in der fortwährenden Kühle begründet ist. Nach einem kleinen Frühstück in einem Thusiser Straßencafé rolle ich erst um 9:30 Uhr aus der Stadt. Die Fahrt nach Bonaduz ist mit einem leichten Auf und Ab etwas mühsam zu fahren. Für die nun folgende Vorderrhein-Route gibt es zwei Einstiegsalternativen. Die linksrheinische Variante führt über die 1108 m hohe Flimser Passhöhe und bleibt meines Wissens ohne Blick auf den Rhein und soll eine interessante Hochmoorebene passieren. Ich entscheide mich für die rechtsrheinische Südvariante, die zwar ein paar Steigungen aufweist, aber deutlich unter 1000 m bleibt. Nach einem sanften Anstieg durch Fichtenwald erreiche ich einen ersten Aussichtspunkt, von dem man einen wunderbaren Blick auf die Mäander des Rheins hat, wo der Glacierexpress als einziges Verkehrsmittel entlang des Flusses fahren kann. Helle Felswände, Kiesgeröllhänge, lichte und dunkle Wälder, das milchige Blau des Rheins und auch mal der rote Zug geben eine unvergleichlich schönes Panorama ab. Die Straße windet sich dabei entlang des Hangs fast eben und durch kleine Steinbogentunnels. Später führt die Route vom Rhein weg in ein Nebental, den Versamer Tobel. Eine urige überdachte Holzbrücke setzt einen weiteren Akzent in der Landschaft. Den Tobel kann man weiter hinauffahren, die Straße nach Ilanz macht jedoch eine Kehre, steigt kurz giftig nach Versam an (schönes einfaches Hotel, Restaurant und Café am Ortseingang) und wendet sich dann zwischen grünen Hügeln ohne Blick zum Rhein Richtung Ilanz. Schließlich führt eine mäßige Abfahrt nach unten. Ab Ilanz geht es dann auf die von Flims kommende Straße mit entsprechend mehr Verkehr auf Höhe des Rheins, der hier nur kanalartig durch das lange Rheintal ohne großen Reiz fließt.







Die Bergketten bilden zunehmend ein Ensemble aus grün begrasten Hügelkuppen und erinnern an die Pyrenäen. Schließlich kommen erste stärkere Steigungen auf dem Weg nach Disentis. Noch zuvor kann ich den Glacierexpress an einem schön in der Landschaft stehenden als Kurve gebauten Viadukt fotografieren. In Disentis fallen mir schöne Häuser auf, die unter den überstehenden Dächern Malereien aufweisen, die ein Stuckdecke vortäuschen. Nach Süden ist das Tessin über den Lukmanierpass bereits in Reichweite. Ob es dort mehr Sommer frage ich mich schon, weil es nach ein kurzen schwülen Phase am Mittag nun wieder ziemlich kühl unter grauem Himmel wird. Ab Sedrun, wo es auf 1400 m Höhe noch ein Campingplatz gibt, muss ich meine Windjacke anziehen.

Die Steigungsprozente nehmen zu und umso mehr bewundere ich die weiter offen liegende Bahnstrecke. Schöne Brücken tragen zu einer reizvollen Bahn- und Flusslandschaft bei. Viele Blumen heitern auch noch im düsteren Licht den oberen offenen Teil des Passes auf. Ab Tschamut kämpfe ich gemeinsam mit der Oberalp-Furka-Bahn, die sogar bergab fahrend so knirschend langsam dahinschleicht, das man ein wenig Mitleid mit der schwer arbeitenden Maschine hat. Ein Radprofi würde diese Passage schneller bergauf fahren als die Bahn!

Am Oberalppass ist es winterlich kalt bei heftigem Wind – nicht so stark wie am Splügen, aber ausreichend für Schüttelfrost. Neben dem See verläuft die Bahntrasse fast auf Passhöhe. Die Abfahrt ist mit den weiten Schleifen und geringem Gefälle leicht zu fahren. Trotzdem presst die Kälte auch hinter Brille noch die Tränen aus den Augen. In Andermatt ist es etwas milder als zuvor in Sedrun auf gleicher Höhe, aber ein weitere Fröstelnacht will ich mir nicht zumuten und entscheide mich gegen den Camping in Andermatt, wo allerdings einige hartgesottene Camper (auch mit Rädern) ihre Zelte aufgeschlagen haben. Andermatt wirkt als wichtige Schnittstelle der umliegenden Alpenpässe wie eine überlaufene Touristenhochburg.

Es sind nur vier leichte Kilometer über die Hochebene bis Hospental, wo es eine Jugendherberge gibt. Diese ist zwar billiger als der Standard in Deutschland oder der Schweiz, aber auch entsprechend rustikal mit einem übergroßen Massenschlafsaal und kärglicher Dusche. Einige, allerdings wenig gesprächige französische Radler sind auch noch untergebracht. Im ruhigen Ort gibt es einige einfache Gasthöfe, in einem speise ich Bärlauch-Gnocchi mit Poulet-Schinken-Wickel und Geschnetzeltes mit Äpfeln. Eine große Motorradfahrergruppe hat dort Unterkunft in einem Massenlager bezogen. Ich erfahre aus den Gesprächen mit der Wirtin einiges über die regionalen Dialekte und das Romantsch in einigen Teilen der Schweiz Hauptsprache, d.h. Deutsch in der Schule Fremdsprache ist. Und sicher kann man sich nirgendwo sein – wenige Tage zuvor ist in dem Gasthof ein Blitz eingeschlagen und hat Computer und einiges an der Elektrik zerstört.


So, 3.7. Hospental (1452m) – Furkapass (2431m) – Gletsch (1757m) – Grimselpass (2165m) – Innertkirchen (625m) – Steingletscher (1865m)
[84 km – 7:00 h – 12,0 km/h – 2865 Hm]

Die Nacht verlief ziemlich seltsam. Mitten in der tiefsten Schlafphase wache ich mehrfach auf und bemerke unterbewusst, dass auf mich die dicken Wolldecken fliegen. Am Morgen bin ich von zahllosen Decken umgeben. Ob es ein Zufall war oder ich aufgrund von Schnarchgeräuschen zum Opfer wurde, kann ich nicht erfahren. Ich bin der Erste, der die Jugendherberge verlässt (mageres Frühstück) und muss die nunmehr dritte schlechte Nacht in Folge wegstecken. Und das gelingt doch ziemlich gut an diesem Tag.

Bei endlich wieder klarem Himmel starte ich auf der Straße parallel zur Oberalp-Furka-Bahn, die erst beim Bahnverlad in Realp in den Berg verschwindet. Danach geht es mit häufigen 11 % Steigung und in etlichen Serpentinen zum Furkapass. Das Panorama ist grandios und mein Rhythmus sehr gut. Ich treffe auf einen etwa 10-köpfigen Radclub aus Österreich (Linz) in der Altersgruppe 40-60. Die meisten haben ein gelbes Trikot, das auch eine Sparkasse als Sponsor ausweist, zwei haben abweichende Trikots, davon eines mit witzigen Comicfiguren in knallbunt. Sie sind mit kleinem Gepäck (Hotelunterkünfte) für eine Woche unterwegs. Ich kann in der hinteren Hälfte mithalten und wir fahren so zwei Pässe gemeinsam.



Nach Westen ist der Eindruck vom Furkapass nach gewaltiger. Die Gletscher- und Schneeberge schneiden den Horizont zum tiefblauen Himmel. Wenig unterhalb des Furka steht ein Hotel, Kiosk und Restaurant. Hier tummeln sich die Bergtouristen zum Anblick des Rhonegletschers. Man kann durch einen Eistunnel noch näher an den Gletscher hinter dem Kiosk herangehen, das kostet aber Eintritt und scheint mir nicht wirklich nötig. Von hieraus schaut man auf den folgenden Grimselpass hinüber und nach unten, denn er liegt ca. 250 m niedriger als dieser Punkt. Die Gruppendynamik der Österreicher zeigt mir einmal mehr, dass ich nicht unbedingt ein Herdentier bin. Der Leiter drückt auf seine Sammelhupe und alles muss nun zur Weiterfahrt antreten.




Wenig später fahre ich auch hinterher, bin aber bergab dann doch schneller als die meisten aus dem Club. In Gletsch wieder ein guter Rastpunkt) kann man die Rhone weiter ins Tal runterfahren oder eben die große Schweizer Pässe-Acht weiterfahren. Dazu geht es gleich wieder bergauf zum Grimselpass, mit nunmehr lediglich 500 Hm lediglich die Hälfte vom Anstieg zum Furka von Hospental aus aufweist. Entsprechend leicht fällt mir auch dieser Pass noch zu fahren. Eine Kurve über Gletsch kann ich einen Blick auf die historische Furka-Dampfbahn werfen, die heute wieder von einer Gesellschaft für touristische Zwecke wie an diesem Sonntag betrieben wird.



Auf der Passhöhe trinken die Linzer ein Runde Bier, das ist für meinen kohlesäureempfindlichen Magen nicht möglich, der Apfelsaft wird aber auch akzeptiert. Stattdessen stärke ich mich noch mit einer Kartoffelpfanne, denn ich möchte noch einen dritten Pass, den Sustenpass, schaffen. Der Radclub hingegen fährt nur noch nach unten und möchte die Etappe bereits in Meiringen beenden. Ich starte ein wenig später, genieße die Fahrt entlang des Grimselsees, der noch von Schneeresten umgeben ist. Am anderen Ende gibt es erneut Restaurationsbetriebe. Auf der Abfahrt passiere ich noch weitere Staustufen, immer wieder ändern sich hier die Landschaftseindrücke. Schöne moosweiche Wiesen mit Zugang zum Oberlauf der Aare lassen mich öfters anhalten, um vielleicht doch eine Badepause einzulegen, obwohl das Zeitfenster das eigentlich nicht erlaubt. Bei Guttannen genehmige ich mir schließlich eine solche Pause.



Nach einer Stunde bin ich jedoch weniger gut aufgelegt als zuvor. Und nach der weiteren Abfahrt samt einiger Flachpassagen beginnt der Tag im tief unten liegenden Innertkirchen eigentlich wieder neu. Die anstehenden 1400 Hm sind nochmal annähernd soviel wie die gesamte Vorleistung. Es ist eigentlich bereits ziemlich spät. Sofort zehrt die heftige Steigung schon im unteren Teil an den Kraftreserven. Das Gadmental ist ziemlich eng, hat aber viele anmutige, ja liebliche Grüntöne – Mischwald, Wasserfälle und urtümlicher Kiefernwald geben der Landschaft ein wieder ganz anderes Gepräge als zuvor. An den Hängen finden sich Walderdbeeren und insbesondere Heidelbeeren. Im schweren Kampf mit dem Berg erhoffe ich mir einen Energieschub von den fruktosereichen Früchten – der kommt aber nicht. Also geht der Kampf weiter und in Gadmen ist eigentlich absehbar, dass ich den Sustenpass samt Abfahrt nicht mehr schaffen kann. Gadmen präsentiert sich als einladender Bergort für eine Übernachtung, im Ortsteil Obermaad gibt es sogar noch einen Campingplatz. Ich frage in einem – für Schweizer Verhältnisse ungewöhnlich – an einem Sonntag geöffneten Laden nach, wo es noch Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Zehn, elf Kilometer weiter in Steingletscher, noch unterhalb der Passhöhe – das wäre machbar. Ich schöpfe neuen Mut und komme in einigen Passagen sogar in einen guten Rhythmus, doch breche ich immer wieder ein. Es kommen sehr viele Verschnaufpausen zusammen. Die wechselnden Berglandschaften bauen mich aber immer wieder auf.

So erreiche ich dann zwar nicht den Sustenpass (wo es auch ein Hotel gäbe), aber immerhin das Hotel direkt mit Blick auf den gegenüberliegenden Steingletscher – Gletscher und spielende Bergziegen – Stille und Bergluft – ein wunderbarer Platz für die Nachtruhe. Das Zimmer ist eng und nicht gerade luxuriös, aber eben von unbezahlbarer Atmosphäre. Mit ca. 65 SFr (42 €) und einem preisgünstigen Essen ist das Ganze auch noch erschwinglich. Trotz meines verfehlten Etappenziels und der geringen Kilometerzahl – es ist eine Rekordetappe auf meiner Tour, nämlich die mit den meisten Höhenmetern.


Mo, 4.7. Steingletscher – Sustenpass (2224m) – Wassen (916m) – Hospental – St.-Gotthard-Pass (2109m) – Airolo (1175m) – All Aqua (1614m) – Ronco
[77 km – 6:38 h – 11,7 km/h – 2000 Hm]

Endlich mal wieder eine erholsame Nacht. Nach dem Frühstück spreche ich noch mit einem Bergführer. Er wird einer kleinen Gruppe das Klettern mit Biwak-Übernachtung in der höheren Bergwelt lehren. Ich starte positiven Mutes in den Tag – bei wieder schönem Wetter. Etwas Wind und erste Wolken deuten aber schon auf eine Wetterstörung hin. Gleich in den ersten Kehren fahre ich durch ein Wunder an Natur. Ein Teppich von Alpenrosen überzieht die Berghänge, dazwischen quellen Bergbäche und Schmelzwasser. Ein zweistrahliger Wasserfall strömt so eigenartig über einen Felsen, dass ich von unten gesehen glaube, dass das Wasser hinter dem Fels nach oben läuft oder gar direkt aus dem Stein sprudelt. Ein anderer dünner Strahl fließt über eine kleine Bogengalerie und entwickelt in der Morgensonne besondere Lichtspiele. Und gegenüber beeindruckt das Jahrtausende alte Eis des Steingletschers.







Schnell ist der Sustenpass erklommen. Auf der Passhöhe verbindet ein kurzer Tunnel weitgehend ohne Gefälle das Gadmental mit dem Meiental. Für das Restaurant und das Hotel mit Massenlager muss man noch einige Treppen hochsteigen. Es ist genügend kalt, dass ich nicht länger verweilen möchte. Aus dem Tunnel heraus, offenbart sich eine gänzlich andere Landschaft. Die Berge sind rau, zackig und schroff, öde Erdtöne malen die Kulisse, Schneegipfel sind nicht zu sehen. Diese Landschaft steht für den Charakter der Schweizer Urkantone, von denen der Kanton Uri hier mit einer Steinbogengalerie und einem darauf gemalten übergroßen Wappen angekündigt wird.

Nach einigen Kehren folgt eine relativ geradlinige Abfahrt durch ein grünes, sanft anmutendes Wiesental mit weniger Wald als im Gadmental. Diese kurze liebliche Landschaftsintermezzo wechselt wieder mit den Steilkehren durch Nadelwald kurz vor Wassen. Ich blicke hinunter, zunächst auf eine Eisenbahnbrücke, dann auf die Galerien der Gotthardstrecke, die Reuss und schließlich die gesamte Verkehrswüste der Gotthardstrecke mit Autobahn, Bundesstraße, Nebenstraßen und Bahnlinie. Die Bergwelt ist wieder rau und schroff, scharfkantige Steinklötze stehen für den Charakter der Gotthardstrecke bis zum Hochtal bei Andermatt. Ich bin froh, es am Vortag nicht bis Wassen geschafft zu haben, denn der Ort wirkt wenig einladend, der Verkehr macht das Tal laut – bei Tag und Nacht.

Da ich mir die Höhenunterschiede dieses Streckenabschnitts nicht genauer angeschaut habe, werde ich von der Steilheit überrascht. Der erste Teil bis Göschenen ist bereits schwer, wo ich noch einen Aprikosenkuchen in der Sonne genieße. Göschenen ist ein recht hübscher Ort, der mit dem Göschener Tal und dem Dammagltscher im Hintergrund auch über ein ansehnliches Panorama verfügt, was für den Rest der Strecke nicht gilt. Nach Göschenen muss ich dann sehr schwer kurbeln, während ein heftiger Verkehr – auch LKW und Busse – sich gleichfalls den Berg hochwälzt. Die Gotthard-Matterhorn-Bahn verläuft meist parallel zur Straße, taucht aber immer wieder im Tunnel ab. Lange halboffene Galerien binden einen Teil der Abgase zu meinem Leidwesen in meiner Atemluft. Kaum ein Pass verdeutlicht die Strapazen von Alpenüberquerungen in früheren Zeiten besser als der Talabschnitt von Göschenen zur Teufelsbrücke. Von der Teufelsbrücke ist es nicht mehr bis zur Ebene bei Andermatt, das ich diesmal in der Mittagszeit erreiche. Ich stärke mich mit einem Sandwich und Eistee, was mir aber dann schwer im Magen liegt.

Der starke Gegenwind Richtung Hospental fordert zusätzliche Reserven. Direkt in Hospental steigt dann die Gotthardstraße steil an. Mein Zwerchfell drückt unangenehm gegen meine Luftzufuhr, so kann ich nicht optimal fahren, ein schlechter Rhythmus ist die Folge. Die zunächst schwüle Luft weicht zunehmend einer kühlen unter dichten Wolken. Dieser Teil der Gotthardstrecke ist ziemlich langweilig. Die Straße streckt sich fast gerade, die Vegetation ist spärlich und schöne Bergpanoramen sind auch nicht zu sehen. Als Ausgleich ist die Strecke allerdings nicht sehr schwierig und weniger steil als der Teil unterhalb von Andermatt. Nur wenige Radler sind unterwegs und der Autoverkehr ist gering.

Obwohl ich mit meiner Leistung nicht zufrieden bin, nähere ich mich zunehmend zwei Radlern, die kurz nach dem Abzweig zur alten Gotthardstraße (Kopfsteinpflaster) einhole. Es ist ein Paar aus Luzern. Sie haben zwar kein Gepäck, sind aber Neulinge im Fahren von Bergpässen – umso stolzer sind sie, schon so weit gekommen zu sein. Ich fahre den beiden voraus, muss aber jetzt bereits eine Jacke überziehen, weil es eisig kalt geworden ist. Der heftige Gegenwind lässt die Fühltemperatur noch mal geringer erscheinen. Nicht mehr weit vom Pass, hat sich eine Nieselwolke ausgebreitet und erlaubt keine Ausblicke mehr auf die Umgebung.

Am Gotthardpass friere ich bereits. Eine historische gelb-schwarze Postkutsche ist im Einsatz für eine Hochzeit – der Wind bläst die Romantik davon. Im Selbstbedienungsrestaurant (schlechte Essensqualität) wärme ich mich auf. Es dauert nicht lange und das Schweizer Radlerpaar ist auch schon da. Sie simsen ihren Erfolg gleich an etliche Freunde. Sie sind weder große Radler noch haben sie überhaupt jemals einen ernsthaften Berg bezwungen – und jetzt gleich den Gotthard. Das ist mutig. Draußen schlägt die Wetterfront mit aller Kraft zu. Der leichte Niesel ist in mittelstarken Regen übergegangen, Sichtweite unter 50 m. Max. 8° Celsius. Die Schweizer fahren schließlich mit dem Postbus nach Airolo (er nimmt begrenzt Räder mit), von dort wollen sie mit der Bahn nach Luzern zurück.



Meine Prämisse bei solchen Wetterverhältnissen nicht auf das Rad zu steigen, lasse ich fallen. Ich packe mich in mehrere Trikotlagen, dicke Regenjacke, langes Beinkleid und starte bei vermeintlich schwächer werdendem Regen. Einige hundert Meter später ist von abnehmender Regendichte nichts mehr zu merken. Ich fahre durch eine Wasserwand. Nach einigen Kehren bei ständigem Sicherheitsbremsen – die Finger sind fast unbeweglich – halte ich in einer halboffenen Galerie. Ich entleere meine Schuhe – sie haben sich in Wasserbecher verwandelt. Nach der provisorischen Trocknung schwimme ich weiter nach unten. Bei einem Abzweig steht ein Schild „Kraftfahrtstraße“, also Radler verboten. Ich nehme die Alternativstrecke, die aber leider wenig später zur Kopfsteinpflasterstrecke wird (ich empfehle das kleine „verbotene“ Stück einfach durchzufahren). Nochmal langsamer fahren. Immerhin, der Regen hat fast aufgehört. Nach oben steht die Wolke undurchlässig um die Berge. Airolo ist zu sehen. Ich spiele mit dem Gedanken, die Etappe abzubrechen. Dann fahre ich doch weiter, nehme den Weg zum Nufenenpass in Angriff (Ortsdurchfahrt Airolo nicht nötig).

Das nur sanft ansteigende, sehr ruhige Val Bedretto beginnt mit Wiesen, die Topografie erinnert an das Meiental, die Bergkulisse bleibt unsichtbar. Die Luft ist ein wenig schwül, wenngleich nicht wirklich warm. An einem Stein nehme ich eine zweite Trockenaktion vor. Mit neuen Socken und Handschuhen kann ich wieder ohne Schüttelfrost fahren – zumindest solange es nicht richtig kalt wird. Ich kalkuliere mein neues Etappenziel. Der Nufenenpass hält keine Unterkunftsmöglichkeit bereit. Ich müsste also auch noch bis Ulrichen abfahren. Das ist schon wegen der feuchten Kleidung nicht ratsam. Zeitlich kann ich es auch nicht mehr schaffen. In All Aqua gibt es laut Karte ein Hotel. Das ist die letzte Übernachtungsmöglichkeit vor dem Pass. Die Kilometer und Höhenmeter sind machbar. Also Weiterfahren durch das dampfende Tal.

Weiter oben wird das Tal enger und waldreicher, ähnelt jetzt mehr dem unteren Gadmental. Ich fahre an Ronco vorbei – ein kleiner Ort mit Hotel und muss Richtung All Aqua eine erstes kleines steileres Stück überwinden. All Aqua besteht nur aus dem Hotel und einer Seilbahnstation. An der Seilbahn werden offenbar zurzeit Wartungsarbeiten durchgeführt. Deswegen stehen auffällig viele Autos hier. Und das ist auch der Grund, dass das Hotel ausgebucht ist. Die Arbeiter nehmen fast die gesamte Bettenkapazität in Beschlag. Im Fernsehen läuft die Tour de France und für einen diesen Tags wahrhaft geschundenen Fahrradhelden gibt es nicht das kleinste Zimmer mehr. Also wieder die 3-4 km zurück nach Ronco. Dort bekomme ich ein Zimmer für 75 SFr (50 €), nicht gerade preiswert für ein sehr kleines Zimmer in einem abgelegenen Bergort – aber ich bin eben froh, nach einem solchen Tag überhaupt so etwas wie ein Nest zu finden. Das Essen ist von nur mäßiger Qualität. Es wird italienisch gesprochen, aber eben nicht italienisch gekocht.


Di, 5.7. Ronco – Nufenenpass (2478m) – Ulrichen – Brig – Visp (651) – Zermatt (1616m)
[115 km – 8:21 h – 13,7 km/h – 1929 Hm]

Als ich gegen 8:20 Uhr starte, hängen die Wolken auf den Berggipfeln, die Luft ist feucht-kalt und trägt entsprechend wenig Sauerstoff. Der Sommer mal wieder in weiter Ferne. Noch einmal fahre ich nun das Stück bis All Aqua. Dort grüße ich ein Schweizer Paar, die gerade ihre Mountainbikes satteln. Sie gehören zu den glücklichen Touristen, die im Hotel tags zuvor noch ein Zimmer ergattern konnten. Wenig später sind die Schweizer an mich herangefahren – Benny und Ilse sind aus St. Gallen, die schon häufiger in der Gegend des Nufenen gewandert und geradelt sind. Ich erzähle ihnen von einem Managementprofessor aus St. Gallen, der einst wesentlich den von mir belegten Studiengang Verwaltungswissenschaft an der Uni Konstanz geprägt hatte. Den kennen sie natürlich nicht. Sie fahren mir ein wenig davon, doch bleibe ich in Sichtweite und kann bald wieder aufschließen. Zuvor entdecke ich noch ein Murmeltier – direkt neben der Straße hält es in aufrechter Position still und schaut mich wohl mit gemischten Gefühlen an. Ist es auch der Kälte wegen noch lahm und stellt sich lieber still als zu flüchten? – Nun, Murmeltiere sind nicht nur vorsichtige, sondern auch neugierige Tiere. Jedenfalls gelingt mir ein Foto von dem Nager – leider ist das Licht sehr ungünstig, um einen Kontrast zwischen Tier und Hintergrund zu erhalten. Offene Bergwiesen bestimmen mittlerweile die Szenerie, einzelne Bauernhäuser liegen an der Straße und der Pass ist schon weithin zu erahnen. Die Kälte wird immer mehr durch einen kräftigen Wind in alle Hautporen hineingetrieben, ich fühle mich wie an einer Eiskanüle angeschlossen. Trotz der unangenehmen Witterung finde ich einen guten Rhythmus, habe mittlerweile Benny und Ilse ein wenig hinter mir gelassen bis wir schließlich den Nufenenpass auch wegen der gegenseitigen Fotos gleichzeitig erreichen.



Der Wind auf der Passhöhe ist in Böen stürmisch, für eine Abfahrt sogar gefährlich. Schneegriesel treibt durch die Luft, es ist ca. 4°C! Die SB-Gaststätte bietet Gelegenheit zum Aufwärmen, eine warme Schokolade tut jetzt richtig gut. Benny muss gleich wieder losradeln, denn Ilse traut sich den Berg nicht mehr runter – zu kalt, zu windig (sie wollten beide wieder zurück nach All Aqua). Weil ich mich mit Ilse noch unterhalte bis Benny sie mit dem Auto abholt, ist es für die Abfahrt bereits 12 Uhr – der Zeitvorteil der schnellen Auffahrt ist damit hin. Dick eingepackt stürze ich mich die faszinierenden Serpentinen nach Ulrichen runter. Die Abfahrt ist höchst gefährlich – auf einer Postkarte schreibe ich, die gefährlichste meines Radlerdaseins – und das ist nicht übertrieben. Die stürmischen Windböen kommen durch die Richtungswechsel in den Kehren immerzu von einer anderen Seite. Die eisige Kälte tut ein Übriges, dass die Finger nicht gut greifen und die Schulter verhärtet. Soweit ich nicht mehr ganz steil herunterfahre, werde ich im Gegenwind deutlich heruntergebremst.



Noch vor Ulrichen kann ich die dickere Jacke mit der dünnen Windjacke tauschen, der Sommer ist aber auch hier noch weit weg. Das obere Goms ist ein breites Wiesental, das von vielen Dörfern in der charakteristischen mit dunklen Holzblanken gebauten Häusern geprägt wird. Nach unten hin wird das Tal schmäler bis es am Rhonedurchbruch bei Brig in eine breite Flussebene übergeht, von dort an Rhonetal genannt. Das Goms ist teilweise flach und hügelig, sonst führen nur kleine Schübe stärker nach unten. Entsprechend schwer muss ich gegen den Wind kämpfen, der nicht abflauen will, zweimal werde ich fast umgerissen. Immerhin wird es kurz vor Brig endlich etwas wärmer, in Brig ist es sogar schwül-warm, wenngleich der Wind auch dort manche Tischdecke noch wegfegt.



Meine ursprüngliche Idee, vom Gomstal eine Exkursion via Seilbahn zum Aletschgletscher zu machen und eventuell sogar auf der Höhe von Bettmer- oder Riederalp zu übernachten, streiche ich aus meinem Programm. Ich habe seit dem Bernina und in der großen Schweizer Pässe-Acht eineinhalb Tage gegenüber der Planung verloren. Ich entscheide mich für einen nicht geplanten Ruhetag in Zermatt, fahre aber hier durch und heute noch bis Zermatt. Zudem spekuliere ich auch darauf, die Runde von Martigny zum Genfer See über Thonons-les-Bains und über den Col de la Forclaz zurück nach Martigny ausfallen zu lassen. Dann hätte ich sogar wieder einen halben Tag Vorsprung – wenn ich sonst durchhalte und das Wetter auch noch mitspielt. Eigentlich ist nur noch das Wetter ein Fragezeichen, denn ich habe mittlerweile genug Zutrauen gesammelt, dass ich diese Tour bewältigen kann. Mehr als die Hälfte der 2000er habe ich bereits hinter mir gelassen und ich spüre eine günstige Konstitution, auch wenn ich hin und wieder gegen kleine Ermüdungserscheinungen ankämpfen muss.

So bin ich auch etwas abgekämpft, um nicht zu sagen entnervt vom vielen Wind, als ich mich in Brig in einen Bistrosessel zurücklehne und köstliche Rösti genieße. Brig ist zwar ein Verkehrs- und Wirtschaftszentrum, aber mit seinen Türmchen und schmucken Häuserfassaden ist es auch eine atmosphärisch sympathische Stadt. Noch bis Visp muss ich mit dem extremen Gegenwind kämpfen, dann endlich entspannt sich die Lage.

Ich beginne die Fahrt ins Vispertal, wo sich noch nichts vom autofreien Zermatt erahnen lässt. Es herrscht extremer Verkehr – Lieferwagen wie Touristen und Einheimische. Der erste flache Abschnitt ist noch landschaftlich wenig reizvoll. Die Sicht ist beidseitig von bewaldeten Bergen begrenzt und auch in Fahrtrichtung verwehrt ein Berg weitere Ausblicke. Dann zweigt das Tal nach Saas Fee ab und leitet ein bisschen den Verkehr ab, während ich dem weiteren Verlauf entlang der Matter (die auch Vispa heißt) folge. Direkt bei der Gabelung der beiden Täler gibt es eine steile Rampe, die die Straße oberhalb der Kinschlucht führt, von der man auf der Straße fahrend nur wenig sieht. Auf der anderen Flussseite verläuft am Hang die Bahntrasse, auf der der Glacierexpress seinem Endpunkt Zermatt zustrebt. Das Tal streckt sich von Visp bis Zermatt auf ca. 30 km. Daher sind die rund 1000 Höhenmeter nicht so anstrengend. Immer wieder folgen auf steilere Passagen ebene Stücke und ich kann mich wieder erholen bzw. auch schon mal recht temporeich fahren. Der Autoverkehr bleibt aber dicht. Trotzdem habe ich genügend Zeit die Fahrt zu genießen. Es ist ein sehr lohnenswerter Abstecher. Immer wieder tauchen weiße Gipfelspitzen auf, geben ein herrliches Panorama. Zahllose Wasserfälle treten aus den Bergen, später sorgen die sprudelnden Kaskaden für ein Lichtspiel aus dem weißen Schaum und dem leuchtenden Grün der Bäume. Viel Lärchenwald säumt insbesondere nach Täsch die schmale Straße, die nunmehr nur noch von Autos mit Sondergenehmigung benutzt werden darf. In Täsch hat sich richtiger Parkhaus-Tourismus entwickelt. Parkhäuser wachsen wie eine Boomtown aus dem Boden. Ein gutes Geschäft. Caravan-Camper schlagen hier ihr Basisquartier auf. Einige übernachten hier gleich, andere steigen auf die Bahn um, wieder andere nehmen Elektrobustransporte in Anspruch. Trotz des Privilegs von Täsch nach Zermatt mit dem eigenen Velo fahren zu können, seien andere Radler gewarnt. Die manchmal gar nicht so wenigen Autos mit Ausnahmegenehmigung brettern recht heftig auf der Straße. Diese ist aber schmal und nur schwer einzusehen. Die meisten Raser sitzen in Schnickschnack-Sportwagen – Geld haben sie wohl, mehr scheinen sie nicht zu besitzen – eine Schande für diese grandiose Kulisse der Natur.

Nachdem ich schon in der Mitte des Tales einmal wähnte, das Matterhorn zu sehen (es war ein anderer Berg, von dem der Wind eine Schneefahne wegwehte), kann ich nun endlich diesen schweizerischsten aller Schweizer Berge erkennen. Erst wenn die ersten Häuser von Zermatt ins Auge fallen, kommt auch der Berg zum Vorschein. Die Abendsonne leuchtet ihn in aller Pracht an. Keine Wolke trübt den Blick. Auch ich bin als erfahrener Alpenradler beeindruckt. Der Berg ist einfach grandios! Selbst der noch höhere Monte Rosa weiter östlich kann nicht dieses Charisma verströmen. Leider versäume ich, den Berg jetzt zu fotografieren. Ich glaube, dass das Licht schon etwas schwach ist und hoffe, am nächsten Tag auch noch mal ein solches Panorama zu erhalten. Das war zu optimistisch…



Am Ortsanfang müssen auch die letzten Autos ins Parkhaus. Danach fahren nur noch Elektrobusse – oder eben Fahrräder. Viele Mountainbikes sind zu sehen. Die dienen Einheimischen oder Touristen hier der Fortbewegung und dem Mountainbiking. Solche, die mit dem Rad hier hochfahren, gibt es nur wenige (es ist ja eine Sackgasse und keine durchgehende Passstraße). Der Blick vom Matterhorn wieder abgewendet nach vorne in die Straßen gerichtet verblüfft mich dann. Zwar sehe ich typische Schweizer Holzhausarchitektur wie sie in den Bergen üblich ist, doch sehe ich nur Japaner, japanische Schriftzeichen, japanische Speisekarten. – Bin ich aus versehen falsch abgebogen und im Land der aufgehenden Sonne? Ist der Berg im Rücken des Dorfes nicht das Matterhorn sondern der Fujiyama? – Ja, die Japaner lieben die Alpen und am Berg der Berge fühlen sie sich besonders wohl. Die Schweizer haben sich auf die asiatischen Gäste eingestellt und entsprechend häufig sieht man auch japanische Schrift.



Die Unterkunftsmöglichkeiten in Zermatt sind so vielfältig, dass man leicht die Übersicht verliert. Man sollte sich vorher oder über die Touristinformation auf einige wenige Adressen konzentrieren. Ein zufälliges Nachfragen kann schnell zur Tortur werden, denn die meisten Hotels sind für einen Deutschen wie mich zu teuer. Es soll auch einen ortsnahen Camping geben – daran kann ich aber bei diesen arktischen Nächten keinen Gefallen finden. Zum Glück weiß ich von der Jugendherberge, die ich schließlich auch mithilfe meines Reiseführers finde (südlich außer- und oberhalb des Zentrums Richtung Blatten). Auf dem Weg dorthin entdecke ich das Kleinod eines Murmeltierbrunnens.



Die Jugendherberge umfasst mehrere Gebäude und ist sehr gut eingerichtet. Es ist gibt jedoch eine Zwang zur Halbpension (52 €), allenfalls kann man alternativ ein Lunchpaket bekommen. Dass es in einem Ort, in dem es vor Restaurants aller Couleur geradezu wimmelt, solche Zwangsverpflichtungen auferlegt werden, stößt bei mir auf Unverständnis. Weil ich für das Abendessen zu spät bin, werde ich zwar für die erste Nacht entschädigt, kann aber für die zweite Nacht keine Entschädigung erwirken. Zum Essen gehe ich an diesem Abend in gemütliches Lokal, wo ich Trockenfleisch, Raclette und Schweinesteak mit Käse überbacken als typische Walliser Gerichte verspeise. Auffällig auch hier die vielen japanischen Touristen, die ihr Fondue-Essen gleich mit blitzender Fotokamera für die Daheimgebliebenen im Bild festhalten.


Mi, 6.7. Zermatt (Ruhetag)
[0 km]

In der Jugendherberge lerne ich zunächst einen Holländer kennen, der bereits seit über zehn Jahren immer wieder nach Zermatt kommt. Er macht ausgedehnte Bergwanderungen, klettert jedoch nicht. Ihn faszinieren die immer wieder wechselnden Wolkenbilder, die man in den Bergen beobachten kann – und die sich verändernden Landschaftsbilder im Wechsel der Lichtverhältnisse. So ist er weniger von der schlechten Witterung dieses Tages betrübt als ich. Zunächst verdecken aufziehende Wolken das Matterhorn und es ist wenig sommerlich kühl bei ca. 14° C.

Der Ort Zermatt ist eine kollektive Shopping- und Fressmeile – eben reiner Tourismus. Die zahlungskräftige Kundschaft aus Japan, Amerika und den Eidgenossen bereitet den Modeboutiquen und Juwelierläden ein einträgliches Leben. Besonders häufig sind Shops für Sportmode und Trekkingausrüstungen. Vorteilhaft ist die große Auswahl an Fastfood, die Qualität der Sandwiches ist bemerkenswert gut. Ich entlaste meinen Ballast um marginale 1,5 kg, indem ich in einem Paket ein paar Mitbringsel und ein paar überflüssige Klamotten nach Deutschland schicke – es kostet stolze 23 SFr (15 €, was allerdings für Pakete aus Frankreich oder von Deutschland ins Ausland gleichermaßen teuer ist – die Preise für Paketdienste stehen in Europa in keinem Verhältnis zu den der Transportleistung, die 2-Kilogrenze ist geradezu lächerlich).

Nochmal zurück in der Jugendherberge lerne ich auch noch einen Deutschen kennen, der eine ziemlich exklusive Kletterfortbildung bei einem Bergsteiger gebucht hat. Er möchte dem Gipfel des Schweizer Nationalberges mit Pickel und Steigeisen näher kommen. Ich selbst entscheide mich trotz der zunehmend schlechten Witterung, doch noch mit der Gornergratbahn auf 3000m hoch zu fahren. Die einfache Fahrt zum Gornergrat mit dieser höchst gelegenen Zahnradbahn in Europas kostet immerhin 36 SFr (24 €). Die Ansagen in der Bahn gibt es in Deutsch, Englisch und – Japanisch. Tatsächlich ist die Hälfte der mitfahrenden Touristen Japaner. Auch das Klischee vom Ostasiaten, der für die Bergwanderung unzureichend gekleidet ist, wird gleich bestätigt. Die Bahn steigt zunächst durch einen archaichen Lärchen- Kiefern und Zedernwald. Hin und wieder fallen schöne Blicke auf Gletscherflächen.

Am Gornergrat herrscht dann eine mondlandschaftliche Bergwelt vor. Mit Seilbahnen kann man noch weiter hinauffahren. Doch bereits hier herrscht bereits solches Winterwetter, das ein Verweilen wenig Sinn macht. Der Blick in den Gornergratgletscher ist bald durch Wolken und Schneegestöber getrübt. Der Monte Rosa ist nicht mal zu erahnen. Ein Aufwärmen im Stationskiosk und dann beginne ich den Berg hinunterzuwandern. Meine Radschuhe sind zwar nicht ideal, der Kombischuh ermöglicht aber mit der Profilsohle durchaus Wanderungen in nicht zu schwierigem Berggelände. Die Pfade sind gut sichtbar, eine spezielle Bergwanderausrüstung ist nicht nötig. Aber das Wetter setzt mir immer mehr zu. Je tiefer ich komme desto dichter wird die Wolke. Bald marschiere ich durch massive Regenwolken. In Riffelsberg kehre ich für Apfelstrudel und Milchkaffee ein (dass das recht teure, im Ambiente ein wenig steif wirkende Restaurant/Café/Hotel nicht mal einen Capuccino anbieten kann, sollte nicht unerwähnt bleiben).



Vorübergehend ist es wieder etwas trockener, doch bald regnet es wieder unerbittlich in der Wolke. Wenngleich ich keine Panoramablicke erhaschen kann, so stimmt die alpine Flora doch milde. Besonders schön ist der Waldsteig im untersten Teil ab Riffelalp, wo die Zedern und Lärchen das Bild eines eiszeitlichen Urwaldes abgeben. Völlig durchnässt erreiche ich Blatten und die Jugendherberge. Durch das ständige Runterlaufen – für mich als Radler eine ungewohnte Bewegung – spüre die Belastung für meine Muskulatur, eine leichte Bänderdehnung am Knie ist die Konsequenz. Kurioserweise erhole ich mich vom Ruhetag wieder auf dem Rad am nächsten Tag.

Da ich nun mal gezwungen bin, die Halbpension zu bezahlen, will ich das Abendessen in der Jugendherberge auch nicht verschenken. Es gibt zähe Hähnchenschenkel (der gefürchtete Gummiadler) mit Tütenpüree, eine fade Suppe dazu. Es schmeckt grässlich. Nun, der Magen ist gefüllt und beim Spaziergang durch das kalte Zermatt am Abend schaue ich mir zwar noch einige Gormet-Speisekarten an, bleibe aber asketisch. Und welcher Trug, wenn die Restaurants mit „Unsere Sommerhits“ locken – Sommer? – Den gibt’s hier nicht, nicht in der Schweiz – und das weiß ich bald – auch nicht drum herum.