Re: Wallis – Côte d’Azur: Aravis, Vercors, Monges

von: Biotom

Re: Wallis – Côte d’Azur: Aravis, Vercors, Monges - 04.12.22 12:34


Tag 4: Grenoble – Lans-en-Vercors – Col d'Herbouilly – Saint-Martin-en-Vercors – Rousset
83 km, 1885 Hm. Karte


Nach all dem Teer gestern brauche ich heute ein bisschen Geschüttel. Bevor es losgeht mit dem Schotter muss ich aus Grenoble raus.





Ta-ta: das Vercors!





In Seyssins ist eine junge Frau total entzückt ab meinem Anblick. Aber och nee, es ist nur der hinter mir herschleichende Kater, der sie so erfreut...





Wenn man eine alte Bahntrassee hochfährt, hat man ja Zeit, sich so seine Gedanken zu machen. Wer wohl alles mit dem Tramway du Vercors unterwegs war? Bäuerinnen auf dem Weg zum Markt, auf dem Schoss einen Käfig mit einem verängstigten Kaninchen? Touristen aus der Hauptstadt? Aufgeregte kleine Jungen auf dem ersten Ausflug ins grosse Grenoble? Verzweifelte Väter, die auf der Suche nach Arbeit die Hochebenen des Vercors verlassen? Erfreute und bange Bräute auf dem Weg zur Hochzeit? Junge Männer in Uniform, aufgekratzt und unwissend ob dem Grauen der Gräben?









Und ob die Tramway im Sommer '44, zu Zeiten der République du Vercors, auch gefahren ist?





Und was wohl Le Moucherotte sich zu all dem gedacht haben wird? Wahrscheinlich nicht allzu viel, schliesslich hat er schon Elefanten und anderes wildes und unnützes Zeugs vorbeiziehen sehen. Das Einzige, was ihn vielleicht ein bisschen verwundert: wie konnten diese Zweibeiner die Chuzpe haben, sich Homo sapiens zu nennen?
Aber dann denkt er an die hunderttausenden kleinen Momente der Zärtlichkeit, Grosszügigkeit und Liebe, die er tagtäglich bei den Menschen beobachtet – sapiens passt halt schon auch.

Was ich mir während dem Aufstieg auch noch überlege: habe ich während meiner Zeit als Landschaftsgärtner jemals so groben Schotter wie hier verbaut? Ich glaube nicht...

Eigentlich erstaunlich, dass bei all diesen Überlegungen noch Energie zum Pedalieren reicht – aber doch, irgendwann bin ich in Saint-Nizier-de-Moucherotte. Aufgrund der Worte der alten Frau vom Tabac könnte man den Eindruck eines sterbenden Dorfs kriegen: Post und Office du Tourisme zusammengelegt und die halbe Zeit zu, kein einziges Geschäft 7 Tage die Woche geöffnet (ausser ihr Tabac), am Morgen viele Autos runter nach Grenoble, usw. Witzigerweise blüht aber das offene Restaurant, und ich muss fast ein bisschen um einen Tisch kämpfen.

Ich wollte auf der Nordwestseite des Moucherotte hoch und auf der Südwestseite runter, aber mehrere Einheimische sagen mir, dass die 700 Hm der Nordauffahrt höllisch steil und höllisch steinig und daher unfahrbar seien; ich solle daher Auf- und Abstieg von Südwesten aus machen. Das passt mir nicht so ganz. Da kommt mir in den Sinn, dass man im Vercors auch andere Gipfel erklimmen kann, mit Aussicht auf einen grossen Gipfel statt auf eine grosse Stadt.
Also fahre ich auf Teer weiter nach Lans-en-Vercors und Villard-de-Lans.







Letzteres sieht auf den ersten Blick gut aus: viele Restaurants und Läden, so dass ich mich noch richtig verpflegen kann, bevor es in die einsamen Ecken des Vercors geht. Aber manchmal ist es wie verhext: die Fougasse tropft vor Fett, der Himmel bedeckt sich, die anderen Touristen nerven, und die öffentliche Toilette ist unauffindbar. Einzig ein paar Kinder sind überglücklich, als ich ihnen bei ihrem Tauschspiel einen Früchteriegel übergebe.
Als beim Touristenbüro ("wo Wasser, wo WC?") ein dynamischer älterer Herr vordrängelt, habe ich die Schnauze voll, und ich fliehe, halt ohne Wasser. Dabei weiss doch jedes Kind, dass Wasser im Vercors selten und wertvoll ist!
Beim nächsten Weiler schüttelt gerade ein junger Mann eine Decke am Fenster aus. Ja, hinter dem Haus habe es einen Brunnen mit leckerem Quellwasser. Tatsächlich, cool! Aber bei einem Durchfluss von ca. einem Liter pro fünf Minuten habe ich gut Zeit, um mir über Dinge wie "Nachsicht gegenüber drängelnden Mitmenschen" Gedanken zu machen grins

Es folgen schattige Kilometer mit düsteren Gedanken in finsteren Wäldern: wo übernachten?? Ich hätte alles dabei, um in unbewarteten Hütten zu nächtigen, aber finde ich die, sind die wirklich offen, und hat es dort Empfang? (Ich schreibe meiner Familie jeden Abend "aacho", damit sie wissen, dass sie keine Suchtrupps losschicken müssen.)
Als mich zwei junge Einheimische auch noch auf die zurückzulegenden Distanzen (sehr weit!) und die Wegqualität der angedachten Traversé du Vercors en VTT (sehr schlecht!) sowie auf die Uhrzeit (sehr spät!) aufmerksam machen, ist die Stimmung endgültig im Eimer. Da helfen auch schöne Ausblicke nicht...





...und solche Schilder schon gar nicht:





Aber dann kommt der Pass und das Licht und die Drôme!





Und sanfte, weite Landschaften verliebt





Und die vollgeile Abfahrt nach Saint-Martin-en-Vercors.





Ein einsames Dorf wie aus dem Bilderbuch, in dem die Sommertage und die Winter lang sind. Die Leute sind überaus nett und die Naschereien der Bäckerei sehr lecker, und ein ordentliches Scheisshaus hat es auch. Ach, ist dieses Reisen eine helle und tolle Sache!
Ich reserviere ein Bett in einem Gite d'Etape ein paar Kilometer südlich und trudle weiter.









Angekommen!





Gegessen wird am Gemeinschaftstisch, geredet über Touren und Pläne, Wölfe und Wildschweine, Lockdowns und Kriege.
Und dann falle ich ins Bett.