Re: Kurze Herbsttour in Friaul und Venetien

von: veloträumer

Re: Kurze Herbsttour in Friaul und Venetien - 01.10.22 16:04

In Antwort auf: iassu
Ich finde es amüsant, wie zuverlässig sich Radreisevorlieben in zwei Gruppen einteilen lassen. Die Bergziegen und die Gravitationisten. Was des einen Paradies ist, ist das Folterprogramm des anderen.

Mir machen topfebene Langpassagen, und seien es auch noch schnurgerade, nichts aus, das Thema Gegenwind mal außen vor gelassen.
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Andere nehmen jede Bodenerhebung mit, die sie kriegen können, weil sie in der Ebene vor Langeweile den Linealtod zu sterben drohen. Zuverlässig an eigenen Berichten wie an Reaktionen auf Reiseberichte verifizierbar, wer zu welcher Fraktion gehört.

Jetzt ist die scherzhafte Bemerkung schon zu einer erkenntnistheoretischem Schubladenwissenschaft geworden. Ich würde dir widersprechen, kann ich auch an flachen Routen gefallen finden und sind nach Bergauffahrten auch immer lange Abfahrten und Flachpassagen weiterzufahren - also leichtes Pedalwerk. Der Bergfahrer fährt ja nicht nur bergauf. Ebenso gibt es manch entäuschende Hügelroute, wo ich dann doch lieber die flache Flussroute hätte wählen sollen. (So erst kürzlich mir auf dem Finale meiner großen Radtour passiert.) Es ist doch durchaus schön sich im oberen Donautal flach dahingleiten zu lassen, dem Doubs mäandernd zu folgen und Fischreiher zu grüßen, oder um Uferkurven am glitzernden Lac Annecy zu schleichen.

Indes macht es für mich einen Unterschied, wie die Strecke beschaffen ist und lange Geraden finde ich grundsätzlich ätzend, wenn ich da lange her muss. Das gilt auch und besonders für gerade Bergstrecken, denn die muss ich bei niedriger Geschwindigkeit noch länger im Auge halten als im Flachen. Dass ein Kontrast zu den fotogenen Wirkungen besteht, habe ich oben schon vermerkt und meine ich auch so ernst. Der allfällige Forumskalender gibt Hinweise darauf, welche Motive gefragt sind - eine lange Gerade bewirkt schneller Fernweh als viele andere Motive. Vor Ort ist dann die Weite eine harte Prüfung, z.B. in einer heißen Wüste usw. und ferner von Romantik als es aussieht. Ich sehe auch immer viel Schiebebilder durch Sand oder Matsch als Siegestrophäe dargezeigt - aber macht das wirklich soviel Spaß oder haben die Protagonisten letztlich nicht doch mehr geflucht vor Ort? Muss man immerglücklich sein oder darf man auch mal enttäuscht sein - z.B. von schnurgeraden antiseptischen Radwegen? Schließlich geben die Erbauer viel Steuergeld dafür aus.

Die Umgebung spielt natürlich auch eine Rolle, aber ein paar Flusswindungen oder geschwungene Ufer machen eine Strecke immer lebendiger als ein gerader Strahl. Nicht selten führen die geraden Bahntrassen auch an der Abwechslung vorbei, umgehen die Dörfer, die ja Farbtupfer in eine Tour bringen, versagen manche Ausblicke etwa wegen der einst angelegten Böschungen usw. Nicht selten sind parallele Straßen abwechlsungsreicher.

Ähnlich ist es ja mit kanalisierten Flüssen, die letztlich nur Ausdruck menschlicher Ordnungsliebe für wirtschatliche Nutzbarkeit sind, was nicht dem natürlich Habitus entspricht. Es hat soagr graviernde Folgen für die Umwelt. Vielleicht ist auch zu wilde Natur weniger gefragt als man derweil zu hören glaubt - anders kann ich mir manchen Hype auf denaturierte Radwege nicht erklären. Krass kann man den Kontrast eines linearen Radwegs im Friaul zwischen Venzone und Gemona neben dem breiten, ungezügelten Flussbett des Tagliamento sehen, der als eine der wenigen Alpenflüsse noch im Ursprungsbett verharren darf. Mag sein, dass andere gerne schnurgearde am Kanal fahren, was mir für eine kurze Strecke auch mal gefallen kann, aber bitte nicht zu lange. Ob es dafür eine leichte Schubladentheorie gibt, würde ich mal bezweifeln.