Re: Trondheim - Nordkap - Lappland + Schären

von: Indalo

Re: Trondheim - Nordkap - Lappland + Schären - 08.09.22 19:00

Kirkenes nach Rovaniemi, 570 km, 2800 Hm, 7 Tage

Von Kirkenes nach Rovaniemi




In Kirkenes angekommen suche ich mir zuerst einen Postschalter in einem Einkaufszentrum in der Nähe des Hafens und schicke mir zwei Kilo warme Klamotten für schlappe 40€ nach Hause. Heute morgen in Vardø bin ich noch bei ca. 5 Grad aufgestanden, aber der Wetterbericht sagt für die nächste Woche bis zu 35 Grad und mehr voraus.
Auffällig in Kirkenes sind diese überdimensionieren Einkaufszentren, in denen sich kaum ein Mensch befindet. Hintergrund ist bzw. war ein Abkommen zwischen Norwegen und Russland, dass den russischen Nachbarn und Nachbarinnen erlaubt sich im Grenzgebiet visumfrei aufzuhalten und unter anderem in Kirkenes shoppen zu gehen. Seit Beginn des Ukrainekrieges ist dieses Abkommen allerdings ausgesetzt.

Ich entdecke dieses Denkmal als Dank für die Befreiung durch die Rote Armee von deutschen Besatzung, die Sonne steht gerade sehr pathetisch.



Nach einer kurzen Runde durch die recht übersichtliche Innenstadt mache ich mich auf den Weg Richtung Finnland. Es geht auf gut fahrbaren Radwegen raus aus der Stadt durch noch einen Vorort mit einem weiteren Einkaufszentrum. Ab hier wieder auf der Straße führt die Strecke eine ganze Weile recht steil durch ein militärisches Sperrgebiet, danach zur Abwechslung mal wieder an einem Fjord entlang, der letzte immerhin auf meiner Reise. Die Strecke ist ganz gut zu fahren und nach einer weiteren kleinen Steigung erreiche ich bei Neiden die Abzweigung hoch zur nahen Grenze.

Hier gibt es eine mächtige Stromschnelle, ich mache kurz Pause, inzwischen hat es schon an die 25 Grad, und bemerke das erste Mal überhaupt auf meiner Reise Stechmücken. Bis jetzt war es für die Biester schlichtweg zu kalt, aber pünktlich für meinen Lappland-Trip sind sie am Start. Sehr aufmerksam!



Ich pedaliere ganz gemächlich zur Grenze hoch und bin überrascht wie schnell sie nach Wochen in Fjordnorwegen plötzlich die Landschaft ändert. Nach wenigen Kilometern schon befinde ich mich im borrealen Nadelwald, auch Taiga genannt, statt alpiner, schneebedeckter Felsenberge sehe ich nur noch sanfte grüne Hügelketten.
Die Grenze besteht im wesentlichen aus den üblichen Schildern, kurz dahinter kommt der erste finnische Supermarkt zusammen mit einer Tankstelle auf der grünen Wiese.



Kurze Bestandsaufnahme: Lebensmittel nur noch halb so teuer, Bierpreise unverändert sehr hoch.

Es fahren nur sehr wenige Autos und das bleibt auch so bis kurz vor Inari.
Nach etwa 20 Kilometern fröhlichen Radelns durch noch sehr schüttere Birkenwälder und vorbei an den ersten Seen, kommt so was wie eine Ausflugsgaststätte ins Bild, so richtig mit einer biergartenähnlichen Terrasse und Musik und lachenden Menschen. Das hab ich ja seit Wochen nicht mehr gesehen. Spontan beschließe ich mir hier ein großes Bier zu gönnen, 6€ statt 15€ wie in Norwegen sind ja quasi ein Freundschaftspreis. Am Tisch neben mir sitzt eine sehr betrunkene Runde rüstiger Herren, ein Schnaps folgt dem nächsten. Irgendwann will der mir am nächsten Sitzende wohl eigentlich aufstehen, geht aber zu Boden, bleibt auf meinen Füßen liegen und schläft entweder ein oder ist bewusstlos, nicht mal sein Hund schafft es ihn noch aufzuwecken.



Die Wirtin kommt und fragt mich ob ich mit der Situation ein Problem hätte. Ich meine mir geht’s soweit gut, der Herr zu meinen Füßen hätte wohl eher ein Problem. Sie redet auf dessen Kumpane ein und zu guter Letzt bemüßigen diese sich ihren schwergewichtigen Kollegen irgendwie hochzuhieven, zwanzig Meter weit zu schleifen und ihn mit Mühen samt Hund in einen großen Geländewagen zu stopfen.
Damit ist die Sache erledigt, die Herren setzen sich wieder, die nächste Runde Schnaps kommt, ich kriege auch einen, Lakritze. Ich frage die Wirtin wie denn das jetzt weitergehen würde mit dem bewusstlosen Kollegen. Sie meint, der würde jetzt erfahrungsgemäß eine Stunde schlafen und dann nach Hause fahren, er hätte es ja nicht weit, nur so circa vierzig Kilometer.
Willkommen in Finnland!

Ich trinke noch ein Bier und schlage mich ganz in der Nähe irgendwo in die Büsche. Ich lerne die lappländischen Mücken kennen, es sind richtig viele, aber mit Mückenhut und viel „OFF!“-Spray halte ich sie mir vom Leib, die Stiche jucken auch nicht übermäßig.



Am nächsten Tag geht es unspektakulär aber durchaus kurzweilig auf guter Straße durch Wald und an vielen Seen und Flüsschen vorbei, kurz vor Inari muss ich allerdings für etwa eine Stunde auf die wesentlich stärker befahrene E75. In Inari gibt es Supermarkt und eine Pizzeria, die Leute hinterm Tresen sind schwer tätowiert und tragen bunte Haare, es läuft Rockmusik, Pizza und Bier kosten zusammen 18€, ist ja fast wie zuhause hier.
Ich campiere nicht weit bei einem Shelter direkt neben einer Stromschnelle. Eine nette Anglerin will mir einen ca. 40 cm langen Fisch schenken, ich lehne dankend ab, heute hab ich schon gegessen und was soll ich morgen mit so einen Riesenfisch bei diesem heißen Wetter.



Ich fahre weiter auf der berühmten 955, bekannt für ihren wenigen Verkehr und dass sie sich irgendwann in eine Dirt-Road verwandelt.
Nach etwa 35 Kilometern biege ich rechts ab in Richtung Lemmenjoki-Nationalpark, ich will nochmal wandern gehen.
Ich komme nachmittags am Ende der Straße an, hier gibt es einen Campingplatz, aber mein Plan ist eigentlich noch wenige Kilometer weiter auf einem offiziellen aber freien Campground zu nächtigen. Irgendwie hab ich aber ein komisches Gefühl und meine Nase wittert Regen, trotz wolkenlosem Himmel. Darum miete ich mir ein Hüttchen für 40€, ich wasche und sauniere und bekoche mich zu Abend, der Himmel ist immer noch wolkenlos und langsam frage ich mich, ob mich mein Näschen nicht doch getäuscht hat. Keine Stunde später tobt ein heftiges Gewitter, mit Hagel sogar und setzt sich am höchsten Berg der Gegend fest zu dessen Füssen mein ursprünglich anvisierter Biwakplatz liegt. Alles richtig gemacht!

Am nächsten Tag bei schönem aber schwülem Wetter besteige ich den höchsten Berg der Gegend, den Joenkielnen, am Ende sind es etwa 20km zu Fuß bei 500Hm teilweise durch sumpfiges Gelände. Es zieht sich ganz schön, macht aber Laune und ich treffe einen einzigen Menschen.



Am späteren Nachmittag, es hat inzwischen weit über 30 Grad, schwinge ich mich wieder aufs Rad und freu mich meines Lebens, endlich ist es mal richtig warm nach all den vielen nasskalten Tagen und Nächten in Norwegen.
Vor mir liegt ein Streckenabschnitt auf den ich mich schon besonders freue, erst mal 80 Kilometer einsamste Landstraße bis zur einzigen Tankstelle mit Café und dann 70 Kilometer Dirt-Road ohne Infrastruktur bis zum nächsten Ort. Von dort habe ich Pläne für einen ausgewiesenen 50 Kilometer Single-Trail und danach nochmal 200 Kilometer Dirt-Road-Vergnügen auf nicht asphaltierten Forststraßen. Geil! Eines der geplanten Tourenhighlights!



Soweit die Idee, es dauert nicht lange bis mich irgendwelche komischen Fliegen nerven. Nachdem mich zwei oder drei davon schmerzhaft gebissen haben, komme ich drauf, dass es sich nicht um irgendwelche gemeinen Schmeißfliegen handelt, sondern um die nordische Verwandtschaft der mitteleuropäischen Pferde- oder Rinderbremse, irgendein grässlicher Vertreter der Gattung tabernae.



Erst sind es fünf, dann zehn, dann zwanzig, nach kurzer Zeit fahre ich in einer vielköpfigen Wolke dieser Mistviecher. Ich hab sie natürlich nie durchgezählt, aber ich schätze so zwischen fünfzig und hundert werden mich stetig begleiten die nächsten Tage. Es fühlt sich ähnlich an wie mitten in einem Bienenschwarm, aber das permanent über Stunden. So etwas hab ich entfernt noch nie erlebt, es ist der reinste Horrortrip.
Die ollen Bremsen wollen mir nicht nur ganz banal das Fleisch vom Körper reißen und mein Blut saugen, nein am Allerliebsten würden sie genau das in meinen Augen, Ohren, Nasen machen wollen.
Es reicht, ich greife zur Vermummung obenrum. Fürs Regenzeug ist es mir zu heiß. Vorerst...



Wenn ich richtig zügig fahre, begleiten mich die Viecher zwar, können sich aber nicht zum Beißen festsetzen. Wenn ich allerdings in meinem gewohnten Reisetempo fahre, ist der Fahrtwind nicht kräftig genug und ich werde gebissen.

So hetze ich also im Sprintmodus den Rest des Tages über die Landstraße, bedrängt von einer Horde proteinsüchtiger Junkies. Zum Glück ändern sich abends trotz Mitternachtssonne doch Licht und Temperatur ein wenig und plötzlich sind die Bremsen weg.

Völlig erschöpft schlage ich einfach irgendwo mein Zelt auf, die dabei auftauchenden Stechmückenhorden ignoriere ich völlig. Blutige Anfänger!

Am nächsten Vormittag wartet die Bremsenhundertschaft bereits ungeduldig auf mein Erwachen und ich schaffe es in weniger als zehn Minuten und in kompletter Regenmontur meine sieben Sachen zu verstauen und loszudüsen. Ohne Kaffee, ich hasse Euch! Es hat um neun Uhr morgens schon um die 30 Grad.

Wenn ich stehen bleibe und mich zügig etwa zwanzig oder dreißig Meter vom Rad wegbewege dann habe ich etwa eine Minute um einen Schluck zu trinken und einen Happen zu essen bevor die Bremsen bemerken dass sich das Frischfleisch entfernt hat.

Völlig fertig erreiche ich die Tankstelle mitten im Nichts.



Der Wirt des dazugehörigen Cafés meint es würde sich um die schlimmste Bremsenplage seit Menschengedenken handeln, es wären nicht nur ungewöhnlich viele, sondern sie wären auch ungewöhnlich aggressiv. Die Rentierzüchter würden sogar schon anfangen ihre Herden zusammenzutreiben um ihre Tiere irgendwie zu schützen, eine sehr unübliche Maßnahme mitten im Sommer. Er rät mir mich mit Essig einzureiben.
Der Essig hilft allenfalls ein bisschen, die Mistviecher sind nicht mehr ganz so extrem beißwütig, das Frischfleisch ist wohl falsch mariniert, gleichwohl begleitet mich die Hundertschaft hartnäckig und auf Tuchfühlung.



Hinter der Tankstelle beginnt der gravel-Teil der Strecke. Anstatt dies angemessen zu genießen, rase ich so schnell ich kann die langezogen Hügel rauf und runter, zur Krönung sind die letzten 25 Kilometer Baustelle, keine feine gravel-Auflage mehr, sondern grobschotteriges Straßenbett. Bisweilen sehe ich Rentiere am Straßenrand stehen, sie sind allesamt eingehüllt in schwarze Wolken.

Gegen Abend erreiche ich Sirrka und lerne durch Zufall zwei junge Männer kennen die in der Gegend als Mountainbike-Guides arbeiten. Ich befrage sie zu meiner geplanten 50 Kilometer Single-Trail Tour durch den nahegelegenen Pallas-Yllästunturi-Nationalpark. Eine schöne Strecke hätte ich mir da ausgesucht, und ja, die wäre prinzipiell auch mit vollgepacktem Reiserad möglich. Aber momentan würden sie mir dringend abraten, die Bremsenplage im Nationalpark wäre unerträglich. Sie selbst hätten gerade alle ihre gebuchten Touren für die nächsten Tage abgesagt, das könnten sie ihren Klienten und Klientinnen nicht zumuten.

Ich such mir einen Grillplatz ganz in der Nähe, ein Schild am Klo weißt auf Videoüberwachung desselbigen hin. Solche Hinweise sah ich in Norwegen schon reichlich, hier in Finnland ist laut Schildern so gut wie alles videoüberwacht.



Am Morgen lerne ich einen anderen Radreisenden kennen. Er ist auf ganz großer Tour, von Frankreich ans Nordkap, durch Finnland ins Baltikum, von dort nach Berlin und weiter nach Athen, zurück über den italienischen Stiefel wieder nach Frankreich, das ganze in knapp fünf Monaten. Er beschwert sich bitter, dass seine Tour bis jetzt so langweilig sei, immer nur auf Schnellstraßen und er noch nichts von der angeblichen Schönheit Skandinaviens gesehen hätte, immer nur LKWs und Bäume. Ich rege an, er möge eventuell seine Route modifizieren, sich die schönen Strecken raussuchen und dazwischen auch mal Bus oder Bahn benutzen. Dies lehnt er brüsk ab, das würde nicht mit seinem Plan korrespondieren die komplette Strecke zu radeln und er macht sich schmollend auf seinen Weg. Tja...

Eben hab ich noch große Reden geschwungen über die Schönheit und Einsamkeit der Nebenstrecken, aber kaum ist der Kollege weg, beschließe ich alle meine gravel-Pläne über Bord zu werfen und statt dessen auf schnellstem Weg, sprich auf der Hauptstraße nach Rovaniemi zu düsen, ich will raus aus dieser blutrünstigen Insektenwolke.

Nachmittags zieht ein schweres Gewitter auf, ich finde zum Glück einen sehr freakigen Bauernhof mit Zimmervermietung und feiere mit dem Hofbetreiber und zwei Flaschen Wein meinen Geburtstag, wir philosophieren bis in die Morgenstunden, nicht nur über diese Bremsenplage biblischen Ausmaßes, sondern auch über den unbedeutenden Rest des Lebens.

Nach eineinhalb Tagen schweissverklebt und übelst nach Brandweinessig stinkend, ohne die Landschaft unterwegs groß wahrzunehmen, erreiche ich Lapplands Hauptstadt, nehme mir ein Zimmer und bin für zwei Tage zu gar nichts mehr zu gebrauchen, nur zum Besuch des Arktikum-Museums kann ich mich aufraffen.

Von Rovaniemi fahre ich mit dem Nachtzug nach Helsinki, aus Sparsamkeitsgründen habe ich mir nur Holzklasse gegönnt. Die Sitze sind unbequem, die Mitreisenden latent unruhig.

In Helsinki auf dem Bahnhofsvorplatz habe ich plötzlich einen Platten, den ersten überhaupt auf dieser Reise. Beim Schlauchwechsel bemerke ich dass meine kleine Reiseluftpumpe nicht mehr ordentlich funktioniert, sie bläst Nebenluft. In der Großstadt kein Problem, der nächste Fahrradladen mit Standluftpumpe ist nur wenige hundert Meter entfernt. Mit Grauen stelle ich mir allerdings die Situation vor wenn mir das irgendwo in Lappland mit all den Bremsen um mich herum passiert wäre.