Re: Radreise ins Glück - München - Kathmandu

von: Helios

Re: Radreise ins Glück - München - Kathmandu - 26.04.21 23:25

Tag 31: Dimitrovgrad - Edirne, 102km
Ein Tanz im intensiven Lebensland

Die erste Portion Pasta ist gemampft. Jetzt wird losgeschrieben und die Gedanken und Erlebnisse rausexplodiert. Wow. Was füf ein Tag. Kuku liegt rechts von mir und ist schon eingeschlafen. Es ist 21.12 Uhr hier in der Türkei. Auf meiner Stirn fühlt es sich an, als hätte ich den Helm immer noch auf. Hätte mir jemand die Geschichte dieses Tages erzählt, hätte ich es ihm nicht geglaubt, dass man das alles an einem Tag erleben kann.
Aber gut, fangen wir von vorne an:

In den ersten wachen Momenten realisiere ich meinen kühlen Kopf. Dann Tageslicht. Schwach, gedämpft. Und ich überlege, wo Kuku liegt. Sie liegt links von mir. Der Kopf auf der Isomatte, ansonsten eingerollt auf dem nackten Zeltboden. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass sie ein Schneehund ist - Snowbutt, wie Miro liebevoll sagte - und im Winter geboren ist. Sehr wahrscheinlich hat sie häufig bei 0 Grad draussen geschlafen.
Ich hebe meinen Kopf und luge aus dem Zelt. Das schwache Licht rührt von dem undurchdringlichen Nebel.
Nein. Das ist kühl. Ich will noch nicht aufstehen.
Dennoch muss ich pinkeln, rüttle mich aus dem Schlafsack und gehe danach gleich wieder hinein und mümmele mich nochmal ein.
Beim zweiten aufwachen scheint Sonne durch den schwächeren Nebel. Es ist kurz vor 8. Nein, nein, nein, ich schaue jetzt nicht nach, ob Miri oder irgendwer mir geschrieben hat.
Ab in den Tag: Stuhlgang. Dann Schluck Wasser und das Aussenzelt auf den Betonblock in die Sonne hängen; dann 12 Minuten meditieren. Die Schlafsackrolle auf einen anderen Stein. Darauf sitzen, Augen zu.
Ich atme und spiele mit meinem Zentrum. Dinge, die mich betreffen: Heute. Die Grenze. 100km. Kann ich das schaffen mit Kuku? Ich lasse den Zweifelfaden weitergleiten. Gedanken an Miri, Gedanken an ihre Entscheidung zur weiteren Facharztausbildung - Halt! - wo ist mein Zentrum? Atmen. Atmen. Und so fühle ich Dankbarkeit. Fühle Sätze wie "ich bin grossartig" in mir umherschwirren. Merke eine Ruhe auftauchen, die dann wieder verschwindet. Das Handy klingelt. 12 Minuten vorbei.
Ich begrüsse die Welt. Begrüsse Kuku und springe mit ihr zweimal im Kreis.
Dann ein spärliches Frühstück: ein dicker Schokoriegel namens "Flapjack".
Bis Simeonovgrad sind es ca. 23km. Dort gibt es dann ein richtiges Frühstück, denke ich mir.
Also rollen wir los. Schwer. Es geht in sehr lang gezogen leichten Anstiegen bergauf. Immer noch schwer, bis ich merke, dass das Dynamolicht von gestern Abend noch auf an ist. Keine Ahnung wie gut der Dynamo ist. Jetzt ist er aus. Dann sollte es zumindest 3-5 Watt leichter gehen. Ha! Das spürt man nicht wirklich... (ungeprüfte Annahme: ich trete etwa 120 Watt im Schnitt).
Es geht an einem schönen Fluss entlang, dessen Ufer immer wieder von Müllhaufen übersät ist. Das macht mich traurig...
Kurz vor dem Ortsschild Simeonovgrads kommt ein Eselwagen entgegen, den ich freundlich grüsse. Als ich vorbeirolle, schaue ich auf die Ladefläche und sehe einen Stuhl, eine ranzige Decke, undefinierbares Zeug. Er kam rechts von mir entgegen. Was macht er denn auf der Strassenseite? Ich rolle und drehe den Kopf dabei, schaue hinterher und sehe, wie er zwischen den Bäumen steil nach links Richtung Fluss geht... Stuhl, ranzige Decke... verdammt! Er wird doch nicht...
Ich drehe um, sehe, wie er er gerade das Zeug über Bord mitten zwischen die Bäume in glänzend grünes Gras wirft.
Ich pfeife nach Kuku, packe das Handy aus der Hülle, schalte den Flugmodus aus und suche im google translator nach "bitte nicht den Müll in Natur werfen".
Ich halte vor dem Abhang an. In 15 Sekunden ist bereits der ganze Müllberg vom Wagen.
Dennoch rufe ich:
"Heide. Molya ne izkhvürlyiaite bokluka sred prirodata."
Der Mann reagiert. Ist aber schon fertig mit seinem Werk. Er kommt ohne Wagen zu mir und brabbelt irgendwas auf bulgarisch. Ich verstehe kein Wort.
Übersetze noch: "die natur in Bulgarien ist so schön.."
Er hebt die Hände entschuldigend hoch.
"A pudka" wiederholt er immer wieder.
Pudka heisst Loch.
Ich Blicke in die Augen des Mannes. In das wettergegerbte Gesicht. In die gelben, schrägen Zähne und spüre Traurigkeit und Wut. Spüre irgendwie Verständnis für diesen Mann und ein Volk das zum Mitmachen an der rasenden Globalisierung gezwungen wurde. Keiner konnte sich gegen den Glanz von Autos, Fernseher, Internet und Handues wehren. Jetzt haben wir uns daran gewöhnt. Und fliegen in 24 Stunden einmal um die Erde und scheissen am liebsten Plastikmüll. Die einen sortieren es und blasen es in den Himmel hinaus, die anderen schmeissen es eben in den allgemeinen Bürgergarten: Natur. Und dieser Mann, der mit einem Eselwagen seinen Müll wegbringt. Nein. Ich kann es ihm nicht verübeln. Dieses Volk darf auch seine Fehler machen.

Wir rollen weiter. Der Müll Mann mit seinem Eselwagen ist etwas langsamer als ich mit laufender Kuku. So geht es nach Simeonovgrad rein. Frühstück? Ruft mein Bauch. Da kommt aber irgendwie nichts. Und auch die Tatsache, dass ich keine Lewa mehr habe in Bar verunsichert mich etwas. So rolle ich durch die Hinterstrassen des Kleinstädtchens, über eine Brücke, die aus Metallgittern besteht, einspurig. Die laufende Kuku hinter mir setzt zwei Pfoten aufs Gitter, bleibt stehen. Läuft nach links und rechts - dabei sehe ich den abgetrennten Fussgängerweg der aus weniger löchrigen Metallplatten besteht. Ich versuche mit Handbewegungen der Hundedame kalr zu machen, dass sie da hin soll.
Derweil wartet hinter mir ein Auto. Auch gegenüber wartet ein Auto. Mein Zentrum springt zu denen, ich werde schneller im Sprechen, maule, pfeife Kuku an, die immer noch an den Gittern links und rechts läuft.
Dann versteht sie und sie den Nebenweg, geht darauf. So kommen wir über die Brücke und damit fast aus Simeonovgrad heraus. Noch kein Frühstück. Nun gut. Ist ja auch schon 11.00. Und das nur 13km entfernte Harminli sieht auch noch grösser aus, da gibt es...
"Ho" ruft es von rechts.
Links von mir steht an einer Strassenecke Polizei.
Rechts ist... da sind mehrere undefinierbare Jungs hinter einem Zaun, etwa 50 Meter entfernt. "Otvoreno" steht in kyrillischen Buchstaben auf einem roten Schild.
Was...? Fragt mein Kopf. Schule? ...
Ich bleibe unschlüssig an der Strassenecke stehen. Trinke einen Mini Schluck Wasser aus Unschlüssigkeit. Kuku legt sich derweil in den Schatten.
Obwohl es mir nicht gefällt, diese paar Meter nach Westen zu fahren, fahre ich rüber.
3, 4... nein nach 2 Minuten stehen unzählbare Jungs vor mir, zwischen 8 und 13 Jahre alt. Die verschiedenen vorlautesten und Alphajungs der Gruppe versuchen sich im englisch. Mit meinen drei bulgarischen Wörtern erkläre ich, dass ich aus Deutschland bin und nach Istanbul fahre.
Sie bewundern mein Rad. Bewundern Kuku. Ich gebe sogar jedem die Hand. Im Hintergrundn stehen drei Mädchen, von denen eine - mit Lolli im Mund - schüchtern "Hallo" (oder war es Hello?) Sagt. Ich sage etwas ähnliches schüchtern zurück.
Mittlerweile habe ich alle Namen vergessen. Jedenfalls versuchen sie mir mehrmals klar zu machen, dass ich einfach kur geradeaus fahren soll. Harminli, Svilengrad und ein ominöses "kapitan andreevo", was ich bisher noch nicht auf dem Schirm hatte.
Als der eine Junge seinen Satz mit "magistrada" und einer pfeilschiessenden Handbewegung schliesst, lachen die anderen Jungs halb gedämpft. Was auch immer. Ich verstehe kaum was. Was ich später verstehe, ist, dass der eine mich auf die Mädels hinweist, indem mit den Händen Brüste, Hintern und eine Scheide andeutet. Er "brüstet" sich sozusagen mit seinem Gehabe. Ich weiss nicht, wie ich darauf reagieren soll, weil ich es für eine Unverschämtheit halte. Das zu sagen weiche ich aus und sage - was auch stimmt - dass die Mädels viel zu jung sind. Kuku wird mit Wasser beschenkt, ich bekomme eine halbvolle Flasche Cola - "partydrinks cola", widerliches Billigzeugs, dass ich später wegschmeissen werde - im Moment hilft es mir aber über den viel zu grossen Hunger hinweg.
Dann versuchen wir über verschiedene Wege, facebook-Kontakte auszutauschen, was erst beim 3. Jungen klappt, da dieser seinen Namen in lateinischen Buchstaben eintippen kann.
Schliesslich fragen sie mich, wieviel mein Handy und mein Fahrrad gekostet haben. Beim Handy stecke ich es unbewusst erst einmal in die Hosentasche mit Reissverschluss, da ich es wirklich brauche, bekomme ich selbst bei diesen netten Jungs Angst, dass sie - ja, bei diesem Unterschied zwischen arm und reich - es stehlen könnten.
Und dann mogle ich den Preis hinab. Sage bei Fahrrad und Handy nur den halben Preis. Für beides zusammen müssten die meisten Arbeiter in Bulgarien ein halbes Jahr arbeiten. Ich habe Angst, diese Jungs mit dieser Tatsache zu konfrontieren, habe Angst sie damitbzu beschämen und in ihren Augen so überaus reich zu gelten.
Ich muss weiter. Habe Hunger. Und komme bald nach Harminli. Dort gibt es wieder einen Lidl. 3 mal Mozzarella, Tomaten, eine Salami, Bananen und nen frischen Orangensaft. Das aber für später. Denn erstmal möchte hier was essen. Ist ja mittlerweile schon 12. Zuerst aber gönne ich mir ein Kinder Maxi King.
Und wechsle dann noch 10 € in Lewa, damit ich mir eine Pizza holen kann. Zu dem Zeitpunkt weiss noch nicht, dass mich Cüneyt im Restaurant Verona einladen wird.
Das tut er aber. Spricht mich an. Älterer Mann, stellt einsilbige Fragen im Wechsel auf englisch und deutsch. Seine blonde Frau nebendran raucht schweigend. Sein Sohn macht Hundetransporte von der Türkei und Bulgarien nach Deutschland. Kontakte werden ausgetauscht. Ich esse eine Pizza, zu der ich mal wieder nach Ketchup oder Mayo gefragt werde. NEIN! Bloss ja nicht!
Cüneyt fragt, ob ich noch mehr will. Kein Kaffee. Lieber diesen leckeren rotorangenen Salat vom Nachbartisch. Ok. Klar doch.
Da fängt seine Frau plötzlich an zu schimpfen. Mit zitternden Händen und Mund schimpft sie.
Ich versuche, zu verstehen, sie betont aber, dass es kein Problem sei.
Ich esse still und atme still den Rauch ein. Während Cüneyt auf dem Klo ist, schweigen wir uns weiter an. Ich versuche ihrem Rauch auszuweichen und beobachte gleichzeitig neugierig, wie intensiv die Gefühle mit ihrem Gesicht kämpfen. Sie raucht Zigarette um Zigarette. Ich glaube, da ist eine gigantische Wut versteckt. Hier kann ich nichts machen. Cüneyt und die Dame verschwinden. Alles idt bezahlt. Dennoch luge ich auf den Zettel und bin wieder erstaunt, wie billig das alles war.
Kurze Hose an. Kuku liegt im Schatten.
Damit weiter nach Svilengrad. 32km bis dahin. Es ist schon 2 Uhr. Klappt das noch bis Edirne?
Mit diesem Geschenk auf der Strasse sicher: nach etwa 10km kommt ein Düngetrekker von der Seite, der sich mit genau 27km/h vor mich klemmt. Ha! Also, ran an den Speck. Kuku sitzt ruhig. So schaffe ich etwa 10 ganz schnelle Kilometer. Danach rolle ich nur mit 17kmh weiter.
Ein Rennradfahrer kommt mir entgegen. Wow. Der dritte im ganzen Land.
Dann überholt mich einer.
Und plötzlich bin ich in Svilengrad. Der letzten Stadt in Bulgarien. Und hier sind Fahrradfahrer. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Nirgends sind sie Rad gefahren. (Mit Ausnahme von Sofia) Und hier sehe ich Rennräder, Mountainbikes, Trekkingräder.
Dazu etliche Casinos.
Ich gehe in den Stadtpark, fast am Ostende des Ortes. Mein Körper schreit nach zehn Minuten Schatten.
Es gibt Tomate-Mozzarella Salat mit den letzten Tropfen gutem Balsamico und ja, dieses Mal schmecke ich deutlich den Unterschied. Ich spritze mich an einem Bodenhahn nass, ruhe mich nicht aus und gehe stattdessen durch dieses Tor - wodrüber die olympischen Ringe sind. Ein Fussballfeld? Was ist darin? Rasen, ja, da ist wohl eins. An den Tribünen vorbei... und:
Des Rätsels Lösung:
Hier ist eine Outdoor Radbahn mit fetten Steilwandkurven.
Juchey. Das will ich mal probieren. Schiebe mein Rad rein und werde aufgehalten: ein junger, etwas breit-sportlicher Kerl geht mit einer älteren Dame auf die Bahn, dehnt sich ungelenk und schliesst die Tour zur Bahn.
Er will laufen. 2-3 Runden. Da mache ich doch mit.
Rad abstellen. Handy und Geldbeutel weg. Und dann laufe ich mit ihm. Feuere ihn an. Am Ende von Runde 2 legt er einen satten Endspurt hin.
Da bekomme ich Lust auf strava und mache eine Runde 1km, um zu sehen was so geht:
3'23. Na also. Etwas laufen kann ich noch.
Stefan - der Läufer - fragt, wo ich schlafen werde. Und bietet mir einen Schlafplatz an.
Da werfe ich die Planung um. 34km wären es noch bis Edirne gewesen. Dann eben nicht. Dann höre ich hier eben auf. Auch gut.
Stefan, seine beiden Trainer und ich gehen nach draussen.
Sie reden noch etwas. Dann fragt mich Stefan, ob ich noch was brauche.
Nein, sage ich. Und damit geht er zu seinem Auto - und fährt davon.
Hä? Was habe ich da wieder falsch verstanden?
Oder hat er mein:
"Okay then i stay with you." - missverstanden?
Na gut. Ich schaue noch kurz hinterher.
Dann geht es eben weiter.
Ab zur Grenze.
Wieder kommt Angst auf.
Die 6. Grenze. Bisher war alles easy mit den Grenzen.
Bulgarien raus - ok.
Türkei, tja. Da wollen sie einen Pcr Test. Den hab ich nicht.
"You got 2 options:
Go back to bulgaria and make pcr test. Or go to turkey with 10 days of quarantine."
Ich überlege hin und her. Lese mir den Quarantänewisch durch und erinnere mich an andere Reisende, die davor gewarnt haben, seine Unterschrift darunter zu setzen.
Ich schreibe mit Yusuf, meinem Freund in Istanbul. Schliesslich unterschreibe ich das Papier mit zitternden Händen. 10 Tage Quarantäne im 250km entfernten Istanbul. Ein grosser Teil von mir findet die Idee, morgen um 3 aufzustehen, um bis Istanbul zu fahren, echt geil. Möglich? Keine Ahnung. Ohne Kuku easy. Aber mit?
Ich verschiebe die Entscheidung und hoffe auf mein Glück und Yusufs Aussage, dass da eh nicht kontrolliert wird. Gut. Dann eben in 2 Tagen nach Istanbul.
Die Türkei begrüßt mich mit einer flammenden untergehenden Sonne im Rücken und einem riesigen aufsteigenden Mond vor mir. Der Orient beginnt...