Re: Berner Oberland: auf der Via rough-stuffina

von: Biotom

Re: Berner Oberland: auf der Via rough-stuffina - 03.10.20 06:54


Tag 7: Gsteig – Längmatte – Burg – Col du Sanetsch – Savièse (Karte)

Am letzten Tag soll es nun also über den Col du Sanetsch gehen, den schönsten Strassenpass der Schweiz – leider hat’s aber nur auf der Südseite eine Strasse. Auf der Nordseite führt ein Wanderweg hoch, welcher vor 2-3 Jahren wegen Steinschlags gesperrt wurde; nun ist er wieder offen, das weiss ich. Und dann gibt es auf der Nordseite auch noch eine kleine Seilbahn, welche auch Velos mitnimmt, aber für meinen sturen Oberländer Grind kommt die natürlich nicht in Frage.
Der Sanetsch macht mich schon ein bisschen nervös: der Steinschlag, die recht eindrücklichen Felswände, und auch die über 500 Höhenmeter unvermeidbaren Wanderweg – so habe ich es zumindest auf der Karte errechnet: ich will auf guten Wegen zur Burg (welche übrigens auch recht einfach von der Walliser Wispile her erreicht werden könnte, siehe gestern) und von dort auf einem «5. Kl., Feld-, Wald-, Veloweg» zum Wanderweg bei p.1477. Was mich bei der Planung ein bisschen irritiert: der 5. Kl., Feld-, Wald-, Veloweg verschwindet beim Reinzoomen in die Karte: hier ist der Weg eingezeichnet, hier verschwindet er. Hä, was ist das los? Im Nachhinein unbegreiflich, dass ich die Situation erst vor Ort begreife, aber egal träller

Ich purzle also auf einem «4. Kl., Fahrweg (mind. 1,8 m breit)» zur Burg. Bei p.1374 hat es ein Schild Privatstrasse (recht selten in der Schweiz), aber egal, ich fahre mal weiter:





Bei der Burg sind zwei Bauern am Werken. Da ich das Privatstrasse-Schild missachtet habe, gehe ich eher diskret an ihnen vorbei und gelange zu diesem Schild:





Ich fahre ein paar Meter weiter und stelle fest: wirklich kein Durchkommen, denn der Felssturz hat den Fahrweg komplett verschüttet. Also gehe ich zurück zur Burg – Scheibe, jetzt muss ich wieder runter nach Gsteig, das heisst, die ganze gewonnene Steigung war für die Katz... Ich gehe noch rasch zu den Bauern – nicht, dass die plötzlich meinen, ich sei über den Felssturz und müsse allenfalls gerettet werden…
Der eine Bauer bestätigt, dass man wirklich nicht durchkommt – aber runter nach Gsteig müsse ich keinesfalls, denn ab der Burg habe es ja den Umleitungswanderweg Richtung Sanetsch. Und tatsächlich, da ist ein tipptopper Weg, alles fahrbar – cool! Es ergeben sich eindrückliche Ausblicke auf das Felssturzgebiet (leicht links oberhalb der Mitte), und angesichts der Wände unter dem Pass fragt man sich ein bisschen, wo wohl der Weg hochführen wird:





Nach p.1477 führt der Weg durch die Ausläufer des Felssturzes: krass, was da für Brocken runtergekommen sind schockiert





Der Wanderweg ist sehr gut ausgebaut und zwischendurch sogar unsteil genug um zu fahren:





Aber eben: ich frage mich schon 1-2x…





…wo und wie der Weg in diesem stotzigen Gelände wohl durchführen wird:





Es ist steil und grobschotterig, aber die Schieberei ist durchaus angenehm, und der Regen zum Glück nur von kurzer Dauer:





Hier nochmals eine Stelle mit der Frage: wo und wie weiter?





Ich find’s ja immer irgendwie ermutigend, an solchen Orten am Wegrand Blühendes zu finden schmunzel





Die obigen Fragen sind leicht zu beantworten: Wo weiter? Links hoch, mit vielen Spitzkehren.





Wie weiter? Auf einem durchwegs angenehmen Weg. Wer steile Schotterwege mit Spitzkehren beherrscht, wird wohl bei einer Abfahrt fast alles fahren können:





Und dann bin ich zurück in meiner Wahlheimat – schön!




Machen wir doch an der Kantonsgrenze kurz Halt und schauen uns die Geschichte des Col du Sanestch an, ist ja schliesslich quasi mein Hauspass. Der Col du Sanetsch war zu keiner Zeit ein besonders wichtiger Pass, denn er eignet sich von seiner Lage her nicht gut als Transitachse. Aber regional hat er durchaus seine Bedeutung: Im Mittelalter zum Beispiel gehörte die Region um Gsteig dem Grafen von Greyerz; aufgrund finanzieller Probleme musste er jedoch die Gegend an die Berner abtreten. Gsteig wurde so protestantisch, was den Einheimischen sehr missfiel. Und so kam es, dass sie öfters über den Sanetsch wanderten, um in Savièse ein paar Tage dem katholischen Leben (und sicher auch dem Wein zwinker ) zu frönen. In den Gsteiger Gerichtsbüchern finden sich zu dieser Zeit entsprechend öfters Einträge zu Verurteilungen wegen «Sitzens in Savièse».
Die Verbindungen zwischen Gsteig und Savièse halten bis heute an: so gehört die Alp auf der Walliser Wispile noch heute Wallisern. Sie wird aber heute über den autotauglichen Col du Pillon erreicht, denn der Sanestch hat bis heute keine Durchgangstrasse. Von der Südseite her führt eine schmale Strasse hoch, welche für den Bau der Staumauer auf der oberen Nordseite des Passes errichtet wurde. Auf der unteren Nordseite hat es aber nur «meinen» Wanderweg und die Seilbahn. Dies lässt sich wohl durch die mangelnde Bedeutung des Passes und die schwierige Topographie erklären.
Was noch bemerkenswert ist: ausser der Grimsel ganz im Osten gibt es keinen Strassenpass über die Berner Alpen. Die Autobahn über den Rawilpass wurde nicht gebaut. Das stört automobile Berner und Walliser bis heute, denn um über die Berner Alpen zu kommen, müssen sie auf den Autoverlad durch den Lötschberg zurückgreifen.


Nun aber zurück zur Tour: im Wallis ist der Wanderweg öfters fahrbar…





…und ich erreiche die erwähnte Staumauer. Von hier geht auf der Strasse noch 200 Hm hoch zum Pass. Im Nachhinein muss ich sagen: die Nordseite des Sanetsch ist gar nicht so übel, und eigentlich wäre es auch mit der Camping-Ausrüstung gut gegangen.





Die Landschaft beim Sanetschsee ist recht eindrücklich:





Auf dem Pass hat es kein Passschild, dafür aber schöne Ausblicke auf das Vorfeld des Glacier de Zanfleuron. Dieser hat vor drei Jahren auf seinem Rückzug zwei Gletscherleichen freigegeben. Es handelt sich dabei um ein Savièser Ehepaar, welches am 15. August 1942 auf dem Weg zu ihrem Vieh auf der Alp Grieden (heute Gridi) beim Col du Pillon unterwegs war (hier eine Karte der geplanten Route – ca. 30 Km und 2800 Hm!). Auf dem Glacier de Zanfleuron wurden sie von einem Gewitter überrascht und verloren wahrscheinlich den Weg. Zwei Tage später wurde Alarm geschlagen und ein Suchtrupp brach zum Gletscher auf, fand die beiden jedoch nicht. Die 7 Kinder wurden daraufhin auf verschiedene Savièser Familien verteilt. Dass anscheinend ein paar Dorfbewohner den Kindern sagten, dass sich die Eltern bloss aus dem Staub gemacht und sie somit de facto verlassen hätten, wird ihr Leiden wohl nicht verringert haben. Nach 75 Jahren konnten dann die zwei noch lebenden Kinder ihre Eltern endlich beerdigen. In diesen deutschen und französischen Beiträgen kommt die Erleichterung der Tochter eindrücklich zum Ausdruck. Eine bewegende Geschichte!





Kurz nach dem Pass erblicke ich den schönen Plan de la Fontaine und die Walliser Alpen verliebt
Die Alpen auf dem Sanetsch (u.a. die hier gezeigte) führten öfter zu blutigem Streit zwischen den benachbarten Dörfern Savièse und Conthey (z.B. hier beschrieben). Dies wirkt bis heute nach, denn die beiden Dörfer sind sich spinnefeind: Als wir frisch nach Savièse umgezogen waren, wurden wir von unseren Nachbarn eingeladen. Dummerweise brachte ich eine Flasche Contheyser Wein mit, was beim Nachbarn heftiges Stirnrunzeln auslöste lach





Die 1400 Tiefenmeter nach Savièse kenne ich gut, und entsprechend sind sie schnell vernichtet schmunzel Wegen des nicht ganz so tollen Wetters gibt’s nur ein Foto vom Abschnitt durch die Morge-Schlucht (das geübte Auge erkennt im obersten Viertel des Bildes die sehr eindrückliche Bisse de Torrent Neuf)…





…und von der Teufelsbrücke:





Im ersten Gebäude von Savièse, der Chapelle Notre-Dame des Corbelins, mache ich kurz Halt und bedanke mich für das gute Gelingen der Tour:



Und dann findet daheim bei meinen Liebsten eine schöne Tour ihr Ende schmunzel