Re: Giro Piemontese Grande

von: veloträumer

Re: Giro Piemontese Grande - 19.11.17 18:42

EP-2 Lesestube

Ich stelle hier eine recht horizontweite, gleichwohl lückenhafte Auswahl von Büchern vor, die zur Erlebnistiefe anregen sollen, die das Verweilen fördern mögen, die der Muße eine Chance geben wollen, ohne Wissen als obsolet zu betrachten, wie es im Informationszeitalter auf schizophrene Art gesellschaftsfähig zu werden droht. Lesen ist Zuhören und Lesen-wollen heißt Zuhören-wollen. Daran herrscht Mangel im Zeitalter der digitalen Geschwätzigkeit und Kommunikationsneurosen. Ein Buch, das einen Wert mitbringt, soll etwas bewirken, soll mitreißen, möglichst in einem was verändern. Dazu braucht es Zeit, die Dinge auf sich wirken zu lassen. Es ist nicht anders als die Gabe des Schauens zu entwickeln, die nicht selten das Buch selbst erst ermöglicht. Es geht also nicht darum, plakativen Meinungsschablonen per copy&paste im Akkord zu übernehmen, sondern ums Erleben, ums Durchleiden, ums Aufrütteln, ums Erwecken. Gleiches scheint bekannt – denn so könnte auch das Radreisen empfunden werden, wenn es den Namen verdient haben soll. Es stehen hier Sachbücher mit wissenschaftlichem Hintergrundwissen neben appetitanregendem Bildband und neben Inspirationsquellen für eine meiner prägendsten Radreisen überhaupt im Vor- und Nachklang.


Verkaufte seine Schulbücher um Abenteuer zu erleben: Pinocchio (Holzskulptur in Viù)

• Werner Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. Leinenband mit einigen S/W-Bildern, Tabellen und Grafiken, 484 S., Verlag C.H.Beck, München, 4. Aufl. 2015, mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-406-67339-9

[] „Jeder, der sich ernsthaft für die Alpen interessiert, landet irgendwann bei Werner Bätzing“, lobt Christian Jostmann von der SZ – sinngemäß bestätigt von Reinhold Messner – das Wirken des Alpenforschers Werner Bätzing, der zugleich ein leidenschaftlicher Bewanderer der Alpen, im Besonderen des Piemonts ist. Nicht zuletzt können GTA-Wanderer auf seinen zweibändigen Wanderführer zurückgreifen – mit kulturgeografischen Hintergründen, mehr als im u.a. Bildband von Kürschner/Haas, aber auch mehr dezidierter Fuß-Wegweiser. „Die Alpen“ ist hingegen ein wissenschaftlich fundiertes, populärwissenschaftlich aufbereitetes Grundlagenbuch zur Geosoziologie und Geokultur der Alpen insgesamt. Trotz vieler statistischer Bezüge und notwendiger Definitionsabgrenzungen bleibt das Buch auch für Laien gut lesbar. Bätzing vermeidet es, den Leser in eine Analysespur zu locken, die keine Fragen mehr offen lässt. Ganz im Gegenteil muss der Leser das Seinige dazu denken, um die mehrgleisigen Deutungen der Analysen zu bestärken, weiterzuspinnen, zu hinterfragen, ggf. ihnen zu widersprechen.

Man merkt manchen Beispielen an, dass Bätzing fast jeden Ort in den Piemonteser Alpen persönlich kennt, doch begrenzt das Buch deswegen die Betrachtung nicht auf die Westalpen, sondern bleibt ausgewogen allumfassend für den gesamten Alpenraum. Dabei ist ein zentraler Kern der Analyse, dass die Hochlagen der Alpen in enger Verbindung mit den Tallagen stehen, die eine spezifische, über Jahrhunderte und Jahrtausende gewachsene Kulturlandschaft prägen, in dessen Vordergrund meist die Nutzung durch den Menschen stand, nicht der Naturschutz einer Wildnis. Der Ausblick in die Moderne und Zukunft geht in die Erfordernisse einer lebensnahen wie nachhaltigen Umgestaltung dieser Alpenräume – nicht in eine romantisierende Konservierung von Alpenklischees. Dabei enttarnt er die romantische Naturverklärung mit möglichst menschenleerer, unverfälschter Bergwildnis, die mit der touristischen Entdeckung der Alpen im 19. Jahrhundert begann, als eine ebenso unzutreffende Projektion des urbanen Menschen aus den wirtschaftlichen Zentren des Kontinents wie die freie Verfügbarkeit der wirtschaftlich Peripherie der Berge als modernen Erlebnis-, Sport- und Spaßgarten für die zeitlich befristeten Auszeiten des homo business.

Es geht also um Siedlungsräume und deren Veränderung, um wirtschaftlich unterschiedliche Zonen und deren Nutzungsbedingungen, um die möglichst optimalen Lebensbedingungen der Menschen vor Ort, um die wirtschaftlichen und ökologischen Beziehungen innerhalb des Alpenraumes wie auch zwischen Alpen und den urbanen Zentren und den meist effizienter nutzbaren Ebenen. Die Nüchternheit der ausführlichen Analyse wird manchen happy-bit-verseuchten Leser sicherlich abschrecken. Abschreckend ist aber auch immer wieder das weit verbreitete Unwissen über den Kulturraum Alpen, in dem selbst viele der wiederkehrenden Alpenbesucher gefangen scheinen. Dagegen hilft dieses Buch vorzüglich.


Der Mensch im Natur- und Sieldungsraum Alpen – Wirtschaftszentrum in Tallage, historische Hochburg des Partisanenwiderstands, lebenswerte Innenstadt im Heute: Domodossola

• Werner Bätzing: Militärstraßen in den piemontesischen Alpen. Ein einführender Beitrag, den man im Web von der Universität Erlangen abrufen kann: Bedrohte Verkehrswege zwischen Montblanc und Mittelmeer (PDF).

Immer wieder werden recht widersprüchliche wie falsche Informationen über diese Straßen verbreitet, insbesondere gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Militärstraßen im Muli-Zeitalter und Neu- bzw.- Ausbauten seit 1870 mit dem Aufkommen motorisierter Militärfahrzeuge. Je nach Alpenregion lagen die Schwerpunkte der Nutzung im Ersten (eher in den Ostalpen) oder im Zweiten Weltkrieg (Piemont), auch tobten Partisanenkämpfe an diesen Straßen, waren aber nicht exklusiv die Wege der Partisanen, die sich wiederum eigene Trails erschlossen (auch zu den Partisanenwegen im Piemont gibt es Reiseführer), sehr wohl sich aber auch gelegentlich der Militärstraßen bedienten wie z.B. auf der alten Nivolet-Straße. Während einige der alten Festungen erhalten blieben, finden sich die meisten Straßen nur noch in den neuzeitlichen Ausprägungen, gleichwohl verfallend. Bätzing betont die mangelhafte Nutzbarkeit von Militärstraßen für die Zivilgesellschaft der Almbauern und Talbewohner, zu dem auch die Erkenntnis gehört, dass sie keine einfachere Fahrwegalternative zu anderen, als Straßen manifestierten alten Handelswegen bieten können, an denen letztlich auch die besiedelten Gebiete und agrarischen Nutzzonen liegen. Bätzing verweist entsprechend insbesondere auf das touristische Potenzial der Militärrouten für Wanderer und Mountainbiker heute (Bild unten von der MSKS). Weiterführende Literaturhinweise am Ende des Artikels.



• Sabine Becht: Piemont & Aostatal. Taschenbuch, 432 S., Michael Müller Verlag, Erlangen, 2005-2014, ISBN 978-3-89953-845-8

[] Ein umfassender Reiseführer, der manch umständliche Recherche im Internet ersetzt. Die geografische Gliederung ist gelungen. Nicht alle Regionen erhalten die gleiche Aufmerksamkeit, sodass ergänzende Infos sinnvoll zu suchen nötig wird, wenn man alle Ecken der Region ausloten möchte (knapp gehalten sind etwa die Lanzentäler oder der äußerste Osten des Piemonts). Ausführliche Infoblöcke, die auch mit den Einkaustipps überzeugen. Zu speziellen Themen gibt es fundiertes Hintergrundwissen in extrahierten Blöcken, mit Hellgelb unterlegt. Teilregionen werden mittels Kartenausschnitten zumindest ausreichend zwischendrin platziert, auch Städtekartenausschnitte sind zu finden, sodass eine Orientierung weitgehend auch ohne eine nebenliegende Landkarte möglich ist. Bebilderung und Text sind für einen informativen Führer gut abgestimmt, sodass der Leser auch recht gut „im Bilde“ ist. Ein kleiner Wanderführer am Ende erlaubt einige interessante Abstecher per pedes. Der nebst Glossar noch eingeflochtene Mini-Sprachführer ist allerdings verzichtbar weil zu dürftig.


Promenade in Cannobio

• Carlo Collodi: Pinocchio. Leinenband, 285 S., Anaconda Verlag, Köln, 2015, ISBN 978-3-86647-695-0

[] Aus dem Italienischen von Paul Artur Eugen Andrae, Illustrationen von Carlo Chiostri, buntes Titelmotiv von Attilio Mussino. Eine eher elementare Ausgabe mit spartanischen Schwarz-Weiß-Illustrationen – insofern weniger als Kinderausgabe zu sehen, das Original war allerdings auch nicht bunt. Collodi hatte Pinocchio als Serienfolge für eine Zeitschrift geschrieben, sodass das Buch diese Sequenzen bündeln sollte. Die meisten Geschichten bilden zwar unmittelbar eine Fortsetzung, andere scheinen aber auch ohne die Vorgeschichte autonom zu stehen. Ob Pinocchio ein reines Kinderbuch ist, darüber besteht insbesondere in jüngerer Zeit wieder Streit. Die eher banalen Moralappelle sind nicht ganze ohne Zeigefinger eingeflochten, wenn auch geschickt in die Geschichten integriert. Dass man die Alten (Eltern) pflegen soll, ist gewiss auch ein moderner Appell an die ältere Söhne- und Töchtergeneration und den Generationenvertrag. Die eigentliche Faszination von Pinocchio sind aber nicht die Moralessenzen, sondern die erdachten Geschichten. Die einfache aber geschmackvolle Sprache macht das Lesen leicht, bedingt auch die Eignung für Kinder, schiebt dabei umso plastischer die Fantasie der Erlebniswelten der Holzpuppe und der Charaktere der Nebenfiguren in den Vordergrund. Kein Wunder also, dass der Stoff immer wieder zu neuen bildlichen Interpretationen inspiriert in entsprechend zahlreichen Bucheditionen – früher wie heute. Falls jetzt die Frage kommt, was sucht der toskanische Pinocchio im Piemont? – dann besuche man Vernante auf der Nordseite des Tende-Passes nur unweit unterhalb von Limone Piemonte und schaue sich die Abbilder auf den Fassaden des Pinocchio-Illustrators und Piemontesers Attilio Mussino an. Ein Ort wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch. Italiener sagen zu sowas einfach nur „Grande!“



• Iris Kürschner/Dieter Haas: Grande Traversata delle Alpi. Durch die „vergessenen“ Täler des Piemont. Leinenbildband, großes Querformat, 145 S., Bergverlag Rother, München, 1. Aufl. 2014, ISBN 978-3-7633-7063-4

[] Authentische wie stilsichere Fotoaufnahmen von Natur, Menschen und Handwerk, keine gestelzten Kunstfotos. Ein idealer Appetitmacher für die Bergregionen rund um den GTA. Das Buch ist trotz Höhenprofilen und Etappendaten kein echter Wanderführer (kann diesen aber ersetzen, soweit man einen solchen nicht unterwegs braucht) und gerade deswegen auch für Nichtwanderer interessant. Spezielle Einblicke gibt es in lokales Gewerbe und Almwirtschaften, wobei hier durchaus die Subjektivität der Autoren durchschimmert. Da kann man manchmal über Geschmack streiten, würde sich etwas mehr Vielfalt oder Distanz in der Präsentation der Betriebe oder auch mehr Blicke in die Täler wünschen, während der Exkurs nach Turin in diesem Buch verzichtbar wäre. Dennoch gibt es hier eine Reihe vertiefender, erzählerisch eingebundene Einblicke wie etwa in das Wesen der Käseproduktion, die Geschichte des Säumerwesens oder sogar zum illegalen Steinbockhandel, die den Band letztlich sehr lesens- wie sehenswert für naturnahes Reisen abseits von kommerztouristischen Gefilden machen.


Verbindet großartige Bergwelten mit kulinarischen Almgenüssen und Waldenserkultur: Der ganzjährig bewirtete Almweiler Alpe Dévero am GTA

• Davide Longo: Der Steingänger. Taschenbuch, 170 S., Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2007-2015, dt. Ausgabe, ISBN 978-3-8031-2747-1

[] Der in Turin geborene Autor gilt als einer der eigenständigsten Vertreter der jüngeren italienischen Literatur und damit auch zu den bedeutendsten Schriftstellern des Piemonts. Mit „Der Steingänger“ erlangte Davide Longo auch Beachtung in Deutschland. Der Krimiroman führt in eines der auch heute noch entlegenen okzitanischen Alpentäler im südwestlichen Piemont, die für eine raue Lebenswirklichkeit stehen, gleichwohl vor imposanten Bergkulissen. Die spröde Sprache des Autors spiegelt auf charakteristische Weise die dörfliche Atmosphäre mit ihren misstrauischen, schweigsamen und auch widersprüchlichen Menschen wider. Die Geheimnisse umgeben einen Mord, der in die modernen Flüchtlingspraktiken führt, bei der die Fremden illegal über die Berge von Italien nach Frankreich verbracht werden. Die Spannung bezieht das Buch aus dem zähen Bröckeln der Wahrheit aus der Stille des Schweigens. Es ist nicht die Story, sondern der Prozess der Suche, der eindrucksvoll das Befremdliche näher rücken lässt und den Wert des Buches ausmacht. Die Art der reduzierten, kurzsätzigen Sprache wird allerdings nur Leser gefangen nehmen, die sich der Kargheit der Berge gleich in eine atmosphärische Unzugänglichkeit entführen lassen wollen.


Holz ist das Hauptprodukt aus dem spröden okzitanischen Varáita-Tal

• Cesare Pavese: Der Teufel auf den Hügeln. Taschenbuch, 192 S., List Verlag, München, 1. Aufl. 2004, orig. Giulio Einaudi Editore, Turin, 1949, ISBN 3-548-60344-0, aktuell nur noch antiquarisch erhältlich

[] Pavese setzt auf Gespräche und Dialoge, um die Spannung und Atmosphäre in einer Freundesgruppe zwischen Jugend und Erwachsenheit aufzubauen. Wie die flirrende Sommerluft knistert die Spannung zwischen den Zeilen, ist eine Welt von Andeutungen in nicht selten banalen wie naiven Gesprächsinhalten. Der Erzähler ist selbst in diese Gespräche eingebunden, also Teil des Geschehens. Seine Rolle ist dabei zwieträchtig – wohl dient er manchmal als Korrektiv der anderen, die nicht alles sagen können, was der Autor sagen möchte. Andererseits läuft er quasi manchmal ins Bild des Lesers, ohne dass seine Mitmachrolle Substanz bekommt. Die Geschichte verfolgt das Pendel zwischen der entrückten Liebe Gabriellas in einer gescheiterten Beziehung, und der aufkeimenden Lust einer neu eindringenden Liebe zu Oreste aus dem überdrehten, gleichwohl gelangweilten Freundeskreis. Das zweite Pendel des Romans bewegt sich zwischen den Vergnügungsangeboten der Stadt wie Turin, den Sehnsüchten des luftigen Sommers am Meer und den Freiheiten wie Zwängen des Landlebens in den Hügeln des Piemonts. Die Jugend ist die Zeit der genussüberschwängerten, ziellosen Muße, die von den nutzorientierten Regelleben der gestandenen Erwachsenen und Alten bedroht wird. Daran entspinnt sich immer wieder die Sinnfrage nach ihrem wahren Kern des Lebens.

Der Leser schaut in einen Spiegel, der die Angst vor einer freizügigen Lebensgestaltung als eine ewige Konstante der bürgerlichen Schubladendenke und seiner Zwänge entlarvt. Fortschritt bleibt eine Domäne der Technik, Gefühle und Moral bleiben ein Auf und Ab im Korsett des Wertekanons der Zeiten. Was die Stärke des Buches ist, die der Andeutungen und Zwischen-den-Zeilen-Gesprochenes, das ist gleichzeitig seine Schwäche. Dies erlaubt keine längere erzählerische Sequenz und schafft kaum überraschende oder mitreißende Sprachbilder. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob es sich hier um große Literatur handelt oder nur konzipiertes Geplauder. Walter Jens hat diesen Roman zu Paveses Meisterwerk erhoben, da ist schwer zu widersprechen. Dafür sprechen psychoanalytische Elemente, wie wir bei Salingers „Der Fänger im Roggen“ finden, und sogar lassen sich Sartre’sche Philosophie-Elemente ableiten. Nicht wirklich ist es aber ein Abbild der Landschaft des Piemont oder seiner Menschen, dafür mehr eine universelle Psychoanalyse an der Schwelle zwischen menschlichen Abgründen und Lebenslust. Das alles wird spielerisch leicht in den Gesprächen transportiert. Also vielleicht doch große Literatur?


Santo Stefano Belbo, die Heimat von Cesare Pavese, deren Hügellandschaft ihn zeitlebens in seinem Schreiben prägte

• Sebastiano Vassalli: Die Hexe aus Novara. Taschenbuch, 412 S., Wilhelm Heyne Verlag, München, 1997, orig. Giulio Einaudi Editore, Turin, 1990, ISBN 3-453-12994-6, aktuell nur noch antiquarisch erhältlich

[] Wenn es einen Anknüpfungspunkt zu Pavese gibt, dann legt der in Genua geborene, aber seit Jugend im piemontesischen Novara lebende und mittlerweile 2015 verstorbene Sebastiano Vassalli ebenso den Finger in die Wunde der Unfähigkeit der Gesellschaft(en), das Paradies zuzulassen. Die Projektion ist hier die Schönheit und Klugheit von Antonia, die in den Strudel von Gerüchten, Lügen und Hass in Zeiten der Hexenverfolgung gerät. Und nicht ganz falsch verweist das auf die moderne, faschistichen Hetzen im 20. Jahrhundert bis zum Heute und Jetzt. Vassalli gelingt es die Zeit des 17. Jahrunderts in der piemontesischen Provinz wie durch einen Fensterblick beobachtet in die Vorstellungswelt des Lesers lebhaft zu transponieren als würde er von heutigen Marktplätzen und Geschehnissen berichten. Er zeichnet die herrschenden Vertreter der Zeit als vordergründig moralisierende Machtmenschen, die sich leicht von ihren Vorsätzen verabschieden, wenn nur das Geld stimmt. Er lässt den Henker mit dem Geköpften auf die Menschenmasse zutreten, als sei es ein komischer oder gar ästhetischer Anblick – das Grauen vom Volk nicht wirklich begriffen, aber doch zu Applaus verführt. Erinnert das nicht an die Rattenfänger von Heute?

Vassalli hat es als außen stehender Erzähler hier leichter als Pavese, Dialoge nur zur historischen Rekonstruktion einzubauen und Erkenntnisse daraus gleich zu interpretieren, an allen Orten bei Bedarf gleichzeitig zu sein, aus einem Füllhorn recherchierter Daten zu schöpfen. Und ja, er lässt nicht nur die Zeit plastischer hervortreten, sondern zeichnet auch die landschaftlichen Fensterblicke gehaltvoller, deutlicher in die Sinne eingravierend, so wie das Morgenerwachen: „An einem verschwommenen, nebeligen Horizont tauchte die Sonne auf: eine rote, leicht verschleierte Scheibe, die sich, je höher sie stieg, in immer leuchtenderem Licht entzündete, sich im Wasser der Tümpel und Gräben und an den Wolkensäumen widerspiegelte…“ (S. 117). Und wie damals die alpine Bergwelt weit entfernt, nicht zu erobern war – nur der Blick dahin –, so nährte in der Ferne das unschuldig weiße Kleid des Monte Rosa den Traum von Rettung, unerreichbar auch für Antonia in ihren letzen Tagen, bevor sie dem Feuer des Scheiterhaufens ihren Körper überlassen musste: „Ach, …, könnte ich doch dort droben sein!“ (ebd.). Vassalli war noch kurz vor seinem Tod als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden – nicht zuletzt wegen dieses historischen Romans.


Die Langhe, das Monferrato und die Bassa liegen wie eine Bühne in einem riesigen Amphitheater, an dessen Horizont die schneebedeckten Bergketten der Alpen hervortreten, bei guter Sicht zum Greifen nahe bis zum Mont Viso oder gar Monte Rosa (hier eine Impression über die Hügel bei Grinzano Cavour/Diano d’Alba)

• Ulrike Voswinckel: Freie Liebe und Anarchie. Schwabing – Monte Verità. Entwürfe gegen das etablierte Leben. Taschenbuch, 184 S., Allitera Verlag/edition monacensia, München, 2009, ISBN 978-3-86906-027-9

[] Heute nur noch ein Hotel und Seminarzentrum mit einer eher spießigen Musealverwaltung des Erbes, war der Monte Verità im schweizerischen Ascona am Lago Maggiore einst ein Kristallisationsort für alternative Lebensweisen, angefangen von die sozialistischen Ideen eines Bakunin, über vegetarische Lebensweisen bis zur unbefangen gelebten Nacktheit. Wichtige Vertreter aus Literatur, Kunst, Tanz und Bohème-Kultur wie etwa Erich Mühsam, Hermann Hesse, Otto Gross, Franziska zu Reventlow, Marianne von Werefkin oder Rainer Maria Rilke bildeten beidseits des Zweiten Weltkrieges lockere Schnittpunkte hin zu einer klassenlosen Gesellschaft ohne Geld, zu freier Liebe, zur naturverbundener Körperlichkeit. Die Autorin entflicht die verschiedenen Phasen, die der Monte Verità erlebte, arbeitet die Motivation und aufkeimenden Konflikte der Bewohner heraus, zeigt wie sich auch dort zerstörende Machtverhältnisse bildeten oder Ideale an banalen Unzulänglichkeiten zerbröckelten. Der stark beschreibende Charakter der Geschichte ist eine notwendige Analyse, bleibt aber auch etwas in Verwirrungen zu vieler „Bäume“ stecken, wobei vielleicht statt der chronologischen Dominanz eine stärkere thematische Gliederung besser gewirkt hätte. Am Ende bleibt der Leser etwas ratlos zurück, warum das Projekt Monte Verità scheiterte, warum es keine größere Strahlkraft entfaltete, warum wir heute umso soviel biederer in die verklemmte Gesellschaft blicken, in der der Schatten der Weltkriege immer noch nicht ausreichend reflektiert wird und Intoleranz zum vermeintlich demokratischen Gemeingut sich aufschaukelt, während die schlichte nackte Haut eine verbotene Provokation darstellen soll, die in angeblich freiheitlichen Ländern wieder doch oder gar erstmals Polizeikommandos aktiv werden lässt (die Schweiz inklusive).



Fortsetzung folgt