Re: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - eine Herbstreise

von: joeyyy

Re: Vom Pilgern mit dem Fahrrad - eine Herbstreise - 28.02.16 11:01

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7.10.2015: Von Biarritz ins Baskenland oder was Grenzen eigentlich sind.

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Ich frühstücke mit meinem Zimmergenossen, einem Programmierer aus Paris, ungefähr mein Alter. Patrick ist ein ganz feiner Mensch. Unscheinbar, leise, überlegt. Wir legen eine seltene Weise, zu kommunizieren, an den Tag. Er lässt mich aussprechen, wartet und versucht zu verstehen, ich sehe geradezu, wie er meine Worte und Sätze erst “schmeckt”, bevor er darauf antwortet. Pausen zwischen Wortmeldungen tun gut, merke ich. Das ist ein seltener Genuss, auf den ich mich nur allzu gern einstelle. Das ist Zuhören zum Wohlfühlen, was wir da zelebrieren: Nachfragen, verstehen wollen, ausreden lassen, Nachdenkzeiten geduldig abwarten.

Wir unterhalten uns über Grenzen. Warum es sie gibt und ob es sie überhaupt geben muss. Das Bewahren von Kulturen fällt uns ein. Doch was ist das, Kultur? Vorstellungen von Normen, Vorlieben für Musik, bildende Kunst, Sprache, Essen, Trinken, Filme, Kleidung, und so weiter? Patrick meint, Kultur sei menschverbunden, also eigentlich alles, was Menschen denken, glauben, wissen, tun. Hmm, ist mir jetzt ein wenig abstrakt. Wenn das so wäre, gäbe es ja keine Kultur-Unterschiede zwischen Menschen sondern höchstens Unterschiede in den Ausprägungen von Kultur. Und die fangen ja schon bei mir und meinen Kindern an. Wir haben völlig unterschiedliche Kulturen, da wir unterschiedlich denken, glauben, wissen, tun. Der Große findet Technik spannend, ich das Reisen. Der Kleine will ins Business rein, ich will eher raus. Meine Tochter liebt Pferde, ich finde Hunde spannender. Wenn das keine Kultur-Unterschiede sind. Muss ich jetzt Grenzen ziehen zwischen meinen Kindern und mir? Da kann es doch sein, dass ein afghanischer Mittvierziger mehr gemeinsame Kultur mit mir hat als einer meiner Söhne. Auch wenn das alles plakativ klingt, stellen wir fest, dass Kulturunterschiede kein ausreichender Grund sein kann und darf, um Grenzen zu ziehen und abzusichern.

Nachdem wir festgestellt haben, dass sich per definitionem jeder Mensch von jedem anderen Menschen kulturell unterscheidet und abgrenzen lässt, wollen wir mal auf die Gemeinsamkeiten schauen.

Ich frage den Franzosen, ob er schon mal anhand von Kleidung, Frisuren, Essgewohnheiten und der Art, wie die jungen Leute auf ihre Telefone starren zumindest erste Hinweise auf die Nationalität der jungen Leute hätte. Hat er nicht. Ich auch nicht. Es ist doch egal, ob ich in Berlin, Madrid, Paris, Istanbul, Hongkong oder Stockholm bin – alles sieht gleich aus, alle – zumindest die jungen Leute – sehen gleich aus. In der Lost-and-Found-Lodge in Panama konnte ich nicht erkennen, woher die Leute kamen. Und sie kamen aus allen, wirklich allen, Gegenden der Welt. Und sie hatten alle den gleichen Habitus. Die gleichen Klamotten, die gleichen Frisuren, gleichen Telefone, auf denen die gleichen Apps und die gleiche Musik laufen. Alles gleich. Wozu also noch Grenzen? Unterhalten wird sich auf englisch, so wie wir beiden hier in Biarritz das jetzt auch tun. Durch die großen Konzerne und Franchise-Ketten sehen die Innenstädte der europäischen Länder auch mittlerweile alle gleich aus. Und dank IKEA wohl auch die Wohnungen in den Städten auf der ganzen Welt.

Patrick fragt sich laut, ob wir den großen Konzern-Multis dankbar sein müssten für das Angleichen von Kulturen und somit das Niederreißen von Grenzen.

So – da sitzen wir nun und schauen uns ratlos an. Sind Grenzen anachronistisch?

Nein, wohl nicht. Hier, im Baskenland, lehrten sie wieder auf baskisch an den Schulen, sagt der Franzose. Und in Deutschlands Osten schreiben sie zweisprachige Ortsschilder, sage ich. Deutsch und Sorbisch, einer Sprache, von der ich nie was hörte, bis ich in der Zeitung las, dass sie jetzt in Cottbus und Bautzen auf dem Ortseingangsschild steht. Und im Sommer sah, dass das so ist. Wobei das Sorbische in Bautzen mit Farbe übersprüht war.

Sind das jetzt Gegenbewegungen gegen die Globalisierung? Baskisch in Schulen, sorbisch auf Ortsschildern?

Pflanzen, sagt mein Frühstückspartner. Die bräuchten bestimmte regionale Bedingungen und wahrten die Kulturen. Monsanto, sage ich. Die sorgen dafür, dass es bald gleiche Pflanzen auf der ganzen Welt gibt, die überall wachsen können. Außerdem haben wir noch Laster, Schiffe und Flugzeuge. Im Januar kann ich in Deutschland frische Äpfel aus Chile essen. Jim Blocks argentinisches Steakhaus in Hannover ist stolz darauf, dass argentinische Steaks in Kühlflugzeugen eingeflogen werden. Ägyptische Grabräuber sorgen dafür, dass in den Wohnzimmern der Bonzen sich Kulturen aus dem Orient mit hipper Modern Art vermischen.

Wir beschließen: Wenn schon alles auf der Welt gleich ist und Kulturen hin und her transportiert werden, können wir die Grenzen eigentlich auch auflösen. Grenzen sollten – zumindest als Ergebnis unseres Gesprächs – durchaus mal einer eingehenden Paradoxie-Prüfung unterzogen werden. Das schaffen wir jetzt nicht.

Patrick will aufbrechen, er wandert in dieser Gegend. Will heute noch auf dem Küsten-Jakobsweg nach Saint Jean de Luz. Ich auch, nur nicht zu Fuß sondern mit dem Rad.

Draußen regnet es. Es ist bereits elf Uhr und ich will heute noch nach Pamplona, über die Pyrenäen. Ich ziehe meine Regenklamotten an und fahre los. Das Wetter über dem Atlantik ist schon dramatisch. Düstere graue Regenwolken bilden sich neben weißen Haufenwolken und zwischendurch sogar mal eine blaue Lücke mit freier Sicht ins Weltall.

Weil es permanent hoch und runter geht, schwitze ich und ziehe meine Plastiksachen aus. In einer Bäckerei in Saint Jean de Luz komme ich mit der Bäckerin ins Gespräch. Sie ist Baskin, spricht spanisch und redet ein wenig baskisch, um mir zu zeigen, wie anders diese Sprache ist. In der Tat: Ich verstehe rein gar nichts. Nicht mal das Wort für “Guten Tag!” kann ich mir länger als zwei Sekunden merken. Niemand wüsste, woher diese Sprache käme, meint sie. Sie sei kompliziert und würde nur hier in den fünf Verwaltungsbezirken des französischen und spanischen Baskenlandes gesprochen. Vergleiche mit anderen Sprachen könne man nicht ziehen. Ich bin verwundert: Wie das Französische oder Spanische sollte diese Sprache doch einen romanischen Stamm haben, zumindest einen indogermanischen. Nein, meint die Bäckerin, die gerade leckerste Croissants für ihren Ofen rollt. Ich lerne, dass das Baskische von den anderen Sprachen verdrängt worden wäre und nur noch hier, in der früher – und auch heute noch – unwirtlichen Gegend am Atlantik und in den Pyrenäen überlebt hätte. Vor tausend Jahren hätten die meisten Menschen in Spanien arabisch gesprochen. Und heute? Nur noch die Einwanderer und Migranten aus arabischen Staaten. Und die würden sich anpassen und Spanisch lernen. Die Basken würden so was nie tun, sagt meine Gastgeberin, sie hätten ein so starkes Selbstbewusstsein, dass diese Sprache niemals aussterben würde. Selbst wenn es nur noch hundert Basken auf der Erde geben würde, würden diese untereinander niemals eine andere Sprache sprechen. Ich frage, wieviele Basken es denn überhaupt gebe. Keine Million, sagt sie. Das muss ein wirklich stolzes Volk sein, denke ich.

Sie bestätigt, was ich von dem Basken, den ich in Guatemala traf, auch hörte: Ein Baske kommt nicht aus Frankreich oder aus Spanien. Er kommt aus Pais Vasco. Und spricht Spanisch oder Französisch höchstens als Fremdsprache.

Ich frage, warum die Spanier und die Franzosen den Basken nicht einfach ihr Land lassen. Wenn wir schon Grenzen ziehen, dann können es doch auch beliebig viele sein. Die Augen der Frau fangen an zu glänzen. Das wünschen sich alle hier, meint sie. Die Basken seien so viel anders als die Franzosen und erst recht als die Spanier. Hmm, ich nehme das einfach mal so hin und werde aufmerksam vergleichen. Mein Gespräch mit Patrick von heute morgen wird gerade konterkariert.

Saint Jean ist ein malerischer Fischerort, wie er in den Prospekten der Tourismus-Industrie nicht schöner hätte fotografiert werden können. In der Altstadt reihen sich Fachwerkhäuser aneinander wie ich sie sonst in Frankreich höchstens an der Loire oder im Elsass mal gesehen habe, aber hier im Süden nie erwartet hätte.

Auf meiner Weiterfahrt frage ich mich, warum es überhaupt Gründe gibt, einen Staat zu gründen. Und was denn dann so ein Staat darf und was nicht. Und ob Staaten – wir sprechen von ihnen ja manchmal wie von Individuen – sich nicht auch so verhalten könnten wie Personen. Das wäre spannend. Wir alle ächten die Sklaverei. Kein Mensch darf einen anderen Menschen als Sklave halten. Jetzt frage ich mich, was denn Sklaverei ausmacht. Der Sklavenhalter sieht seine Sklaven als Eigentum, als reine Ressource, als kauf- und verkaufbares Mittel – nicht als Zweck. Essen, Trinken, Regeneration – alles das dient lediglich dem Erhalt der Ressource, nicht der Erbauung des Menschen.

So. Und wenn ich mir jetzt zum Beispiel das Verhältnis der USA zu Kuwait anschaue oder von Apple zu Foxconn, um mal Firmenbeziehungen mit ins Spiel zu bringen, dann kann ich durchaus Parallelen ziehen. Das sind sklavenähnliche Beziehungen – nennen wir es von mir aus auch Zwangsarbeit (was keinen signifikanten Unterschied in den Gedanken ausmacht), die dort aufgebaut und gepflegt werden. Was für Menschen verboten ist, ist Unternehmen und Staaten erlaubt. Nehmen wir mal an, ich gründe einen Staat in Europa und in Afrika gründet ein Afrikaner einen anderen Staat. Wenn dieser Afrikaner nun seine wirtschaftliche oder militärische Überlegenheit nutzt, um mich als Mittel für seine Zwecke einzusetzen, dann ist das zwischenmenschlich gegen die Menschenrechte und sogar strafbewehrt, aber zwischenstaatlich legitim und legal. Warum eigentlich? Und welche Sicht gilt? Warum ist Firmen und Staaten erlaubt, was einzelnen Menschen verboten ist?

Direkt an der Steilküste erwischt mich ein Hagelschauer. Ich schaffe es nicht mal, meine Regensachen aus den Satteltaschen zu holen und überzuziehen sondern hocke mich hinter einen Busch, da die Hagel horizontal vom Atlantik geflogen kommen. Der eingemischte Regen tropft dann vertikal vom Busch und somit bin ich dann doch auch nass. Nach einer viertel Stunde ist der Spuk vorbei und der Atlantik raunt ruhig vor sich hin.

Nun kann ich die Pyrenäen schon sehen. Bald biege ich links ab, lasse den Ozean hinter mir und fahre in das erste Tal. Hier ist es kalt und nass und ungemütlich und meine Erkältung meldet sich noch mal mit den letzten Ausläufern. Auf einen weiteren Hagel- oder Regenschauer habe ich keine Lust, ich nehme mir ein Hotelzimmer, koche mir auf dem Zimmer meinen Abendbrei, dusche heiß und gehe früh ins Bett. Dann mache ich die Pyrenäen eben einen Tag später. Ich bedauere, dass es wieder kälter wird. Das Wetter ist schon ein bedeutender Wohlfühlfaktor für mich als Radreisender. Und das Wetter kennt keine Grenzen. Oder doch? Ich bin zufrieden mit meinem Tag. Einem grenzenlos lehrreichen Tag, der jetzt seine zeitliche Grenze erreicht.

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Fortsetzung folgt.

Gruß

Jörg.