Pässe für Anfänger – Schweiz im heißen August /3

von: albinkessel

Pässe für Anfänger – Schweiz im heißen August /3 - 07.01.16 12:19

Fortsetzung - dritter und letzter Teil

Freitag, 7. August 2015: Bellagio – Claro (IT, TI) / 56 km
Nicht allzu früh brach ich vom morgens noch ruhigen Seeufer auf.



Von Bellagio windet sich die kleine Straße nordseitig durch den Wald mit vielen Kurven und längeren Passagen mit 10% und mehr Steigung hinauf zum kleinen Ghisallo-Pass, immerhin 550 Höhenmeter. Der Pass ist in Italien bekannt wegen der Kapelle der namensgebenden Madonna di Ghisallo. Diese wurde von keinem Geringerem als Papst Pius XII. zur Schutzpatronin der Radfahrer erklärt. Dementsprechend ist die Kapelle vollgestopft mit Weihegaben zahlreicher Radsportler: Original-Räder von Fausto Coppi, Eddie Merckx und anderen, Siegertrikots von Giro und Tour des France, Pokale. Für Radsport-Fans eigentlich ein Muss! Für weniger fromme Besucher gibt es zudem noch ein modernes Ciclismo-Museum auf der Passhöhe, die nebenbei auch landschaftlich recht schön ist.







Auf der Abfahrt hielt ich mich immer rechts am Hang, oberhalb von Erba. Es gab hinter Asso sogar ein Stück Radweg, der sich aber als ruppige Schotterpiste erwies. In Albavilla verbrachte ich eine gute halbe Stunde mit der vergeblichen Suche nach einem Barbier – merke: Traue nie der Wegbeschreibung eines Italieners! Das letzte Stück des Weges von Tavernerio hinunter nach Como entpuppte sich überraschend als (geschotterter) Bahntrassenradweg, der angenehm an den Vororten vorbei ins Stadtzentrum führt. Hier hatte ich den südlichsten und zugleich tiefsten Punkt meiner Reise erreicht, die Alpen waren überquert!

Inzwischen ging es auf Mittag zu, und es wurde immer heißer. Angesagt waren 40 Grad im Schatten, und die hatte es mindestens. Angesichts dessen war eine längere Mittagspause angezeigt, die ich erst im Park am Seeufer mit Obst und Gebäck (es gibt in Como, unweit westlich des Domes eine köstliche Bäckerei, Beretta L’Arte del Pane), dann in einem Cafe verbrachte. Auch einen Barbier fand ich schließlich in einer kleinen Altstadtgasse.
Wegen der langen Pause und der Hitze kam nun Plan B zum Einsatz: Ich verzichtete auf die Fahrt über den Monte Ceneri, die ohnehin über weite Strecken durch Gewerbegebiete führt, und setzte mich in Chiasso in die S-Bahn. Da es sich um einen Schweizer Zug handelte, war er picobello und, vor allem, klimatisiert, was mir nach der kurzen, heißen Fahrt nach Chiasso sehr gelegen kam (die Fahrt hat einige Steigungen, eine Strecke abseits der großen Straße habe ich nicht entdecken können).

Von Bellinzona ging es topfeben über die Veloroute 3 nordwärts durchs Tessin; interessanterweise kam der starke Wind diesmal von hinten (ich hatte schon gemeint, in den Alpen kommt er immer von vorne), so dass es sehr schnell voranging. Leider zu schnell, denn ich verpasste den Abzweig zum Campingplatz in Claro (der am Radweg nicht ausgeschildert ist, offenbar gibt es Querelen zwischen Platzbetreiber und Gemeinde, so dass erster den Gästen per Aushang empfiehlt, nicht in Claro, sondern im Nachbarort einzukaufen). Also wieder zurück, mit Gegenwind. Der große Platz ist schön gestaltet, mit mehren kleinen Zeltwiesen und – einem Pool! Dieser war mir sehr willkommen, denn obwohl die Sonne schon hinter den Bergen verschwunden war, war es immer noch weit über 30 Grad.





Zum Abendessen lief ich 20 min. in den Nachbarort, um in einem seltsamen „Grotten“-Ausflugsrestaurant leckere Tessiner Küche zu genießen. In der Nacht war es immer noch so heiß, dass ich auf der Wiese und nicht im Zelt schlief.

Samstag, 8. August 2015: Claro-Acquacalda (TI, GR) / 54 km
Der Lukmanierpass gilt zwar als einer der leichteren Pässe über den Alpenhauptkamm, aber vom Ticion-Tal aus sind es immerhin auch 1.677 Höhenmeter. Die Hauptstraße ist recht breit ausgebaut, mit wenigen Kurven, mit Autoverkehr. Daneben gibt es die alte Straße, die auch als Veloroute ausgeschildert ist. Sie ist völlig ruhig und führt mit etwas Auf und Ab durch eine Reihe von kleinen Dörfern, die allerdings nicht besonders pittoresk oder belebt sind, wahrscheinlich hauptsächlich Ferienhäuser, wie überall im Tessin. Zur Auffahrt ist meiner Meinung nach in jedem Fall die alte Straße besser geeignet, die Mehr-Höhenmeter halten sich in Grenzen, und es ist wesentlich schöner. Man verpasst dadurch lediglich Olivone, dass den Umweg aber nicht lohnt, es sei denn, man muss in den dortigen, großen Supermarkt. Eine Verpflegungsmöglichkeit in einem netten, vollgestopften Kramladen gibt es aber auch etwas weiter unten, in Dongio. Bergab ist wahrscheinlich die neue Straße angenehmer. Das Val Blenio ist übrigens landschaftlich sehr schön, ein riesiger grüner Kessel, in den immer wieder das eisige Rheinwaldhorn hineinlugt.





Mir machte die Hitze sehr zu schaffen, zumal heute kein bisschen Wind ging. Oben am Pass ballte sich außerdem wieder ein Gewitter zusammen, es fielen zwischendurch sogar ein paar Tropfen. Nach einem nutzlosen Schotter-Ausflug zur Alpe Pian Sengno – dort fand ein lärmiges „Alpenblumen-Fest“ statt, das mir vorher von radelnden Urlaubern angepriesen worden war – kam ich am frühen Nachmittag beim Naturschutzzentrum Acquacalda, 1.765 m, an. Die wesentliche Steigung war hier geschafft, und angesichts des nahenden Gewitters ließ ich meinen Plan fallen, oben an der Passhöhe am Stausee wild zu Zelten. Stattdessen quartierte ich mich auf dem Zeltplatz neben dem Naturfreundehaus ein – gerade noch rechtzeitig vor dem Regen, der bis zum Morgen nicht aufhören wollte. Ich war froh, bei dem heftigen Berg-Gewitter nicht alleine oben auf der ungeschützten Passhöhe zu sitzen, sondern hier unten zwischen ein paar Bäumen.

Sonntag, 9. August 2015: Acquacalda – Chur (GR) / 96 km
Das letzte Stück zum Pass ist fast eben und führt vorbei einen eindrucksvollen, uralten Arvenwald – im morgendlichen, sich hebenden Nebel ein magischer Ort. Oben am Lukmanierpass kam ich gerade recht zur Messe in der modernen Kapelle, wo zu meiner Freude romanische Lieder gesungen wurden.









Oben fuhr ich abseits der Straße ein Stück weit um den Stausee herum. Bizarr: Im hintersten Winkel gab es ein paar Wohncontainer, bewohnt von eritreischen Flüchtlingen, bewacht von Sicherheitspersonal. So löst man in der Schweiz die Flüchtlingskrise verwirrt

Die Abfahrt nach Disentis ist schnell – es gibt kaum Kurven und mehrere lange Geraden, ich konnte mit 62 km/h meinen persönlichen Geschwindigkeitsrekord aufstellen. In Disentis gab es auch Sonntags morgens einen geöffneten Volg-Supermarkt fürs Frühstück, für das ich mich vor das große Kloster setzte, das in diesem Hochtal wie ein barockes Ufo gelandet zu sein scheint.



Die ausgeschilderte Veloroute durch die Surselva bringt das landschaftlich sehr schöne Tal mit seinen kleinen Weilern und spitzen Kirchtürmen hervorragend zur Geltung – dafür geht es allerdings heftig bergauf und bergab, meist auf Schotter oder löchrigem Asphalt, was besonders runterzugs ärgerlich ist.







Kurz vor Sumvitg wechselte ich entnervt auf die Hauptstraße (wodurch ich mir eine weitere, überflüssige Extra-Steigung einhandelte), auf der es dann rasch mit leichtem Gefälle bis Ilanz hinuntergeht. Dort fand ich mit etwas Mühe einen Gasthof, wo es leckere Capuns gab (ohne die zu kosten man Graubünden keinesfalls verlassen sollte ...). Kurz danach erwischte mich auf der Straße ein erstes Gewitter, das ich noch unter einem Scheunendach abwettern konnte. Der anschließende Weg oberhalb der Rheinschlucht Ruinaulta, also auf der südlichen Talseite, ist unbedingt zu empfehlen, auch wenn es wieder etwas bergauf geht. Durch die Ortsnamen (Versam, Valendas, Castrisch ...) und die bizarre Landschaft fühlt man sich ein wenig wie in Mittelerde.











Kurz vor Bonaduz öffnete der Himmel dann alle Schleusen, und weil ich meinen Zug erreichen musste, konnte ich diesmal nicht abwarten, sondern musste die letzte halbe Stunde bis Chur im Regen fahren – die Tour endete so nass, wie sie angefangen hatte. Die Rückfahrt mit Umsteigen in Zürich im Nachtzug war problemlos. Bemerkenswert: Eine umsichtige Schaffnerin ordnete die Fahrräder schon beim Einsteigen nach Zielorten, um dem üblichen Chaos vorzubeugen.

Fazit: Trotz der Hitze eine tolle Tour. Pässefahren ist möglich, nicht zur für Superhelden, und es macht süchtig!

Viele Grüße

Michael