Re: Mit Claudia über die Via Claudia

von: joeyyy

Re: Mit Claudia über die Via Claudia - 11.09.14 11:27


Montag, 25. August 2014

So, jetzt sind wir also in Italien und haben in zwei Tagen die beiden Hauptpässe geschafft. Wir sind mehr als zufrieden mit unserer Leistung - eigentlich eher überrascht, dass es so gut läuft. Auf dem Reschenpass trafen wir einen jungen Radler, der uns mitteilte, dass Venedig auf Höhe Null liegt und wir ja eigentlich nur noch rollen müssten.

Na ja, rollen ist mit dem Tandem in den Bergen so eine Sache...

Der Radweg an der Etsch entlang ist hier, vom Reschenpass runter, wirklich gut ausgebaut. Aber auch steil. Und obwohl es ein Radweg ist, kommen dann durchaus mal ein Traktor oder ein Kieslaster um die Ecke. Und dann ist auf dem Radweg für ein Rad kein Platz mehr. Und für ein bergab rollendes Tandem weder Brems- noch Ausweichmöglichkeit. Also schieben wir lieber bergab. Das ist zwar Energieverschwendung, aber lebenserhaltend.

So haben wir aber auch die Muße, uns hin und wieder mal einen Apfel zu "stiebitzen". Die Apfelernte steht kurz bevor und Südtirol ist Apfelland. Also schreien uns die Äpfel, die runtergefallen sind oder die direkt in den Radweg hineinwachsen, geradezu an: Nimm mich!

Wir stellen aber schnell fest, dass die Zuchtäpfel so gut wie keinen Geschmack besitzen. Es gibt sie zwar in allen Farben, aber die ist geschmacklich egal. Alle schmecken fast gleich, erinnern eher an Zuckerwasser denn an die anderen Äpfel, die wild wachsen und die wir in Österreich hin und wieder mal von einem frei stehenden Baum pflückten.

Tja, was soll ich sagen - der Verbraucher im Aldi oder Lidl soll ja sowohl in Hamburg als auch in München eine gleiche Apfel-Qualität bekommen und der kleinste gemeinsame Nenner ist da wohl das Zuckerwasser.

Ab Mals wird es wieder etwas flacher und wir können gemütlich durchs Vinschgau rollern. Die Sonne zeigt sich auch wieder und jetzt kann es uns egal sein, ob es oben am Reschen regnet oder schneit.

Nur einer ist jetzt gegen uns: Der Wind. Ein mittelalter Rennradfahrer aus dem Harz, der ebenfalls die Via Claudia abfährt, und der sich wundert, dass er auf der gleichen Strecke wie wir bereits neun Plattfüße mit seinen Rennradreifen hatte, erklärt uns, dass der Wind Ora hieße und durch die sonnenerwärmten Berge entstehe. Die erwärmen nämlich auch die Luft um sie herum, die Luft steigt auf und dadurch entsteht ein Sog, der kühlere Luft aus dem Tal in Richtung Berge zieht. Und das ist für ein Tandemgespann, das ins Tal runter fährt, dann eben Gegenwind. Mir leuchtet das ein und bin erstmalig positiv gegenüber Gegenwind gestimmt. Er ist hier halt eben der Preis für Sonne und Wärme. Und er beginnt ursachenbedingt erst mittags und endet am späten Nachmittag. Nachts entsteht dann der umgekehrte Effekt.

Claudia und ich beraten ein wenig und verwerfen die Idee, nachts oder frühmorgens mit Rückenwind anstatt tagsüber mit Gegenwind zu fahren. Auch wenn sich an unseren alltäglichen Entscheidungen nichts ändert, ist es manchmal ganz befriedigend, die Welt ein wenig besser zu verstehen. Reisen bildet zwar, aber muss ja nicht immer auch was ändern.

Nun fahren wir an Äpfeln aller Coleur vorbei. Grüne, gelbe, rote, pinke und tiefviolette. Solche Farben habe ich noch nie an einem Apfel gesehen. Es wirkt schon skurril, aber wenn es keine Menschen gäbe, die das kaufen wollen, gäbe es keine Äpfel in diesen Farben. Wir haben alle Farben mal probiert, aber unser Eindruck bestätigte sich: Sie schmecken alle gleich fad.

Über Naturns fällt uns dann Schloss Juval auf, das ziemlich exponiert auf einem Felsen steht. Wir überlegen kurz, ob wir mal einkehren, haben aber erstmal die Nase vom bergauffahren satt. Außerdem sind wir uns nicht sicher, ob das wirklich das Schloss vom Messner Reinhold ist.

Ich nehme mir vor, das zuhause mal nachzuschauen und zu einem späteren Zeitpunkt alle Museen von ihm zu besuchen. Ein Freund von mir ging letztens einen Tag mit Messner spazieren. Man muss wohl so um die 120 Euro bezahlen und darf sich dann einer Gruppe anschließen, die der berühmte Bergsteiger führt. Mein Freund ist vom naturell her niemand, der sich groß was sagen lässt oder sich schnell ein- oder gar unterordnet. Aber von dem Messner war er sehr angetan. Der hätte eine Aura und eine Erfahrung, die einen schnell in den Bann ziehen würde. Ich hebe mir das für mal später auf.

Meran durchfahren wir, schauen uns die ganzen Leute an, die da irgendwie gar nicht reinpassen, irgendwie aber dann auch doch wieder und sind auch schnell wieder draußen. Dort scheint ein Wettbewerb zu laufen, der darauf ausgerichtet ist, so viele Papptäschchen von irgendwelchen Mode- und Parfüm-Häusern wie möglich an zwei Händen zu tragen. Und das auch als Paar-Wettbewerb, wobei der Mann trägt und die Frau, die gerne auch ein paar Jahrzehnte jünger sein darf, navigiert. Vielleicht ist das sowas wie Geo-Caching für Bonzen. Vielleicht verstecken die Leute ihre Täschchen auch wieder irgendwo und jemand anderes muss sie finden. Oder soll sie finden, achwaswissenwirdennschon...

Kurz vor Bozen finden wir in Nals einen schönen privat geführten Campingplatz. Im Gasthaus Stachelburg lassen wir es uns wieder kulinarisch gut gehen und essen selbst gemachte südtiroler Käseknödel und trinken mal wieder einen leckeren örtlichen Wein. Die Chefin kocht selbst und die Bedienung ist super freundlich und fachkundig.

Dermaßen gesättigt und vom Tag beeindruckt huschen wir wieder in unsere Höhle und haben eine ruhige Nacht.

Ach ja, Fotos habe ich heute gar keine gemacht.


Dienstag, 26. August 2014


In Bozen treffen wir dann auf die Brenner-Autobahn, die uns jetzt bis Trient begleitet. Aber so schlimm und laut, wie ich das befürchtet habe, ist das gar nicht. Der Etschtal-Radweg führt zumeist am Fluss selbst entlang und die Autobahn nehmen wir nur ganz selten wahr. Entweder ist sie weit weg (das Tal ist ja breit genug) oder sie ist durch einen Wall oder Bäume schall- und sichtisoliert. Also: Entspanntes Radeln mit toller Berg-Kulisse.

Trient gefällt uns sehr. Das ist wieder einer dieser Orte, die auf dem Weg zum Gardasee oder Mittelmeer gerne links liegen gelassen werden. Leider hat das Gom, die aus meiner Sicht beste Eisdiele der Welt, die ich aus Turin kenne, wo ich leider kein Geld mehr für mehr als eine Kugel hatte, eine so lange Warteschlange, jetzt hier in Trient, nicht damals in Turin, vor sich, dass wir den Gedanken an ein leckeres Eis schnell wieder verwerfen (Hatte ich schon mal erwähnt, dass ich verschachtelte Sätze mag, aber an einen Nabokov oder Dostojewski nicht rankomme, Gott sei Dank für die Leser?).





Wir genehmigen uns noch einen Café (die Italiener sprechen das immer mit so einem Schmäh aus: Kafff'äh, mit der Betonung auf der zweiten Silbe) und fahren dann raus aus Trient. Vor uns liegen rund fünfhundert Höhenmeter, hoch zum Lago di Caldonazzo. Es ist schon spät und wir müssen uns ziemlich beeilen, um noch vor der Dunkelheit den Zeltplatz in San Cristoforo zu erwischen. Das schaffen wir und sind ziemlich abgetörnt vom Platz selbst. Alles dicht an dicht gedrängt und fest in der Hand der Holländer. Selbst die Rezeption ist von einer Holländerin besetzt.

Die Pizza im Zeltplatz-Restaurant essen wir als Nachbarn einer typisch italienischen Familie mit Papa, Mama und vier Kindern, die mit Plastik-Spielzeug und reichlich Cola und sonstigem Süßzeug ruhiggestellt werden. Ich meine das, was die Italiener unter "ruhig" verstehen. Papa und Mama sind zusammen wahrscheinlich knapp dreihundert Kilo schwer, wobei ich mir nicht anmaßen möchte, eine Verteilung auf die beiden vorzunehmen. Die Kinder sind aber auf dem besten Wege, gewichtsmäßig in die tiefen Fußstapfen ihrer Eltern zu treten.

Im Zelt befürchten wir eine laute Nacht und vertrauen darauf, dass wir müde genug sind um den nötigen Schlaf zu kriegen. Das ist dann auch so.


Mittwoch, 27. August 2014


Aus dem Lago di Caldonazzo fließt die Brenta ab, deren Verlauf wir nun bis in die norditalienische Ebene folgen. Der Radweg der Via Claudia ist hier im Brenta-Tal wunderbar ausgebaut, die alten Dörfer und Städte bewahren viel von der italienischen Berg-Kultur.





Selbst moderne und "hippe" Läden fügen sich in die alte Substanz ein.





Tourismus ist hier zwar auch ein wirtschaftlicher Faktor, aber er scheint hier eher sanfter Natur. Die Landwirtschaft wirkt da eher verstörend. Wie bei uns vielerorts in Deutschland fressen sich Monokulturen von Energie-Pflanzen in die Landschaft, die entweder für die Erdgasnetze oder die Tanks unserer Autos angebaut werden.





In Bassano del Grappa finden wir auf einer Kooperative, die behinderten Menschen Arbeitsplätze anbietet, einen Zeltplatz und lassen es uns abends in der Trattoria del Borgo kulinarisch mal wieder so richtig gut gehen. Wir folgen der Beratung des Kellners und sind von der Qualität des Essens und des Weins extrem angetan.





Im Restaurant selbst sitzen nur Italiener, der Koch kommt immer mal wieder raus und quatscht mit den Leuten an den Tischen.

Als wir zahlen und gehen wollen, kommt der Koch auch zu uns und spendiert uns einen Limoncello vom Feinsten. Dolce vita!


28.8.2014 und der flache Rest


Bassano ist ja nun der letzte Ort in den Alpen, bis Venedig ist es jetzt flach. Glauben wir. Hier müssen wir uns jetzt entscheiden, ob wir die längere Route über Vicenza und von Süden her nach Venedig reinfahrend nehmen oder die kürzere Route über Treviso von Norden her nach Venedig reinfahrend.

Optimistisch wie wir nunmal sind, entscheiden wir uns für die längere Variante und fahren in Richtung Vicenza.








Bemerkenswert ist Vicenza selbst jetzt nun nicht, aber das kleine Gebirge, über das wir fahren wollen, hinter Vicenza. Das hat es in sich. Wir müssen immer mal wieder schieben - sowohl bergauf als auch bergab. Eigentlich - so denken wir - hatten wir die Berge schon abgehakt. Aber das hier verlangt uns nochmal all unsere Kraft und unsere stoische Ruhe beim bergauffahren und -schieben.

Nun, es lohnt sich aber allemal. Der höchste Punkt sind nochmal knapp 300 Höhenmeter und von dort haben wir wunderbare Ausblicke auf die Alpen, auf Vicenza und in Richtung Mittelmeer. Leider ist die Sicht ziemlich diesig, so dass wir Venedig nicht wirklich erkennen können.

Einen Zeltplatz gibt es hier nicht, so dass wir unser Zelt auf einem verlassenen Bauernhof aufstellen und vorher gekauftes Brot mit Käse und einer Flasche Wein als Abendbrot genießen. Es ist wunderbar ruhig hier und wir schlafen schnell ein.

Was wir nicht wissen, ist, dass es hier irgendwo eine Hühnerfamilie gibt und der Hahn irgendwann nachts gegen drei Uhr meint, es wäre an der Zeit, seine Mädels zu wecken. Das wiederum gefällt dem Hahn auf einem weit entfernten anderen Bauernhof gar nicht und er meint, er könne lauter. So wechseln sich die beiden Hähne rund eine halbe Stunde ab und schreien sich gegenseitig an. Dann ist mal wieder für eine Stunde Ruhe. Dann geht das Ganze wieder los und so weiter. Als es dann dämmert, fangen die Mädels unseres Hahns langsam an, zu gackern und wir lassen uns von der allgemeinen Tages-Aufbruchstimmung mitnehmen.

So früh saßen wir noch nie auf dem Rad, genießen aber die Frische des frühen Tages. Gegen neun kehren wir in einer Kafff'äh-Bar ein und stärken uns ausgiebig mit Kafff'äh und Cono con Crema.

Flach geht es jetzt auf direktem Weg in Richtung Meer. Wenn wir unser Tempo halten, dann kommen wir sogar schon am Freitag in Venedig an und könnten den kompletten Samstag nutzen, um die Stadt zu besichtigen.

Diese Aussicht ist allerdings für Claudia und mich nicht sonderlich attraktiv. Wir kennen Venedig bereits und wollen lieber noch in der Lagune bleiben als uns inmitten von zigtausenden Besuchern durch die engen Straßen der zum Untergang verdammten Stadt schieben zu lassen. Wenn wir Samstagnachmittag einen Zeltplatz finden und dann mit der Fähre nach Venedig reinfahren, um dort ein wenig zu flanieren, dann reicht das auch.

So beschließen wir in Chioggia direkt am Meer, auf einem dortigen Zeltplatz zu übernachten und uns diese Fischerstadt näher anzuschauen.














Hier gibt es sie wirklich noch: Die Fischer, deren Boote und offene Werkstätten und Garagen im Hafen, in denen Männer im Blaumännern Motoren, Netze und sonstiges Gerät reparieren. Und zwischendurch immer mal ein Pläuschchen mit anderen Männern mit und ohne Blaumann halten.

Unser Abendessen besteht aus einer Ladung Spaghetti ai Frutti di Mare und einem frischen "Beifang-Teller" im "Al Porto". Das sind frittierte Meeresfrüchte und Fischteile, die frisch vom Boot in die Fritteuse wandern. Wir haben so viel Fisch auf dem Teller, dass wir selbst nach einem anstrengenden Rad-Tag vor der Menge kapitulieren müssen. Aber lecker ist das trotzdem und ein Eis hinterher geht auch immer.








Am nächsten Tag fahren wir dann mehr Fähre als Rad. Von Chioggia nach Pellestrina, von San Pietro zum Lido di Venezia und von dort nach Fusina, wo wir Samstagnachmittag auf dem Zeltplatz unsere Sachen lassen, um dann mit der Fähre nach Venedig zu fahren.










Der Besuch dort ist in Bilder gefasst:





























Am nächsten Tag fahren wir durch Mestre zum Flughafen Marco Polo, von dort fliegen wir nach Hamburg und von dort fahren wir dann mit der S-Bahn und dem Metronom zurück nach Lüneburg.

Die Abfertigung des Tandems in Venedig und Hamburg war wesentlich entspannter als die Mitnahme in der Bahn von Lüneburg nach Augsburg. Der Metronom ist das fahrradfreundlichste Transportmittel überhaupt und so hatten wir eine relativ stressfreie Heimreise.

Fazit.

Claudia und ich sind überrascht von unserer Teamfähigkeit. Sowohl körperlich als auch emotional waren wir auf der Tour wunderbar eingeschwungen. Wir trafen jede Entscheidung gemeinsam und mussten nie lange diskutieren. Wir fuhren jeden Tag, nur die beiden letzten Tage ließen wir es wirklich ganz locker angehen. Eigentlich wollten wir unterwegs einen Tag Ruhepause einlegen, den wir aber beide nicht vermisst haben.

Auf einer noch längeren Tour wäre es allerdings sehr ratsam, alle drei bis vier Rad-Tage einen Ruhetag einzulegen.

Ich muss meine Einstellung zu den italienischen Radwegen korrigieren. Fühlte ich mich in der Gegend um Turin noch massiv bedroht von den rasenden Autofahrern, führt die Via Claudia von der Etschquelle bis Venedig über wunderbare Radwege und verkehrsarme Nebensträßchen.

Die Italiener verbreiten eine Lockerheit, die ansteckt. Wir fühlten uns einfach nur wohl.

Die kleinen italienischen Dörfer in den Alpen verbreiten einen morbiden Charme, vor allem im Brenta-Tal schon gepaart mit mediterranem Flair.

Trient und Bassano sind Orte, zu denen wir nochmal zurückkehren wollen. Vielleicht auch mal zum Wandern oder zum MTB-Touren.

Für unsere nächsten Touren wissen wir, dass wir vor Bergen keine Angst haben müssen. Vielleicht wäre die nordspanische Gegend mal ein lohnenswertes Ziel. Die barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul haben uns vom Jakobsweg erzählt. Er führt auch an ihrem Klösterle vorbei. Vielleicht fahren wir ihn mal bis nach Spanien ab, uns an die Herzlichkeit der Schwestern erinnernd. Schließlich kann ich seit der Begegnung mit ihnen mit dem Begriff "barmherzig" wirklich etwas Konkretes, Schönes verbinden.

Und Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, Pontifex maximus, Tribuniciae potestatis XIV, Consul V, Imperator XXVII, Pater patriae? Dem danken wir posthum für seine vorausschauende Planung und seine Entscheidung, einen tandemfähigen Weg zwischen Augsburg und Venedig bauen zu lassen.