Re: Addis Abbeba-Nairobi

von: Anonym

Re: Addis Abbeba-Nairobi - 20.01.17 08:34

@Peter: Hättest Du etwas über das Entwicklungsmodell Spiral Dynamics gelesen, von dem ich Dir vor Jahren mal erzählt habe, würdest Dich jetzt über diese Diskussion hier nicht wundern. teuflisch

@all: Ich habe auch geschluckt, als ich Peters Bericht las. Das weiß er aber schon. Ich kenne ihn aber so weit, dass ich weiß, dass dies a) keine seiner üblichen Reaktionen und b) tatsächlich "wohlüberlegt" (trotz vermutlicher Affektlage) gewesen sein wird. (Ohje, auch noch "Absicht!"). Peter gehört zu den auch völlig fremden Menschen gegenüber gastfreundlichsten und hilfsbereitesten Menschen, die ich kenne - nicht unüberlegt, ganz im Gegenteil, aber zuerst einmal konsequent offen.

Und jetzt wir hier in diesem Forum, im deutschsprachigen Teil Europas: Wir hier leben in einem regelgeleiteten, erfolgsorientierten und/oder humanistischen Umfeld und halten diese unsere Werte hoch und verteidigen sie. Das ist richtig und bringt uns als Gesellschaft weiter, und ja, wie vorhergehend jemand schrieb, es hat uns auch zu einer der längsten Friedensphasen auf dem westlichen Teil des Kontinents geführt.

Äthiopien ist allerdings ein völlig anderes Feld. Hier zählt Auge um Auge, Zahn um Zahn, der Stärkere gewinnt etc., und teilweise ist die "Stammeszugehörigkeit", die Zugehörigkeit zur eigenen Sippe noch das allerwichtigste Kriterium, um zu entscheiden, ob jemand Freund oder Feind ist: Gehörst Du nicht zu mir, so bist Du mein Feind. "Moral" in unserem Sinne gibt es dort nicht. (Dazu gibt es sogar entwicklungspsychologische Forschungsergebnisse, dass ein "Schuldbewusstsein", wie wir es kennen, sich erst auf weiter fortgeschrittenen Ebenen entwickelt.) In diesen Gruppen zählen nur die "Moral" und Regeln, die von den Ahnen/der Sippe vermittelt werden - und da scheint eben insbesondere in Äthiopien gerade eine Art "Vakuum" zu herrschen, dass eben diese Vermittlung, wie man sich Fremden gegenüber verhält, entweder nicht mehr funktioniert, oder eben tatsächlich diese Fremdenfeindlichkeit bewusst oder unbewusst fördert. Das berichten eben nicht nur Reisende hier, sondern auch Entwicklungshilfeorganisationen. Und aus vielen Erzählungen weiß ich, dass Peter sich genau mit dieser Entwicklung zu immer mehr Feindseligkeit seit vielen Jahren sehr intensiv auseinandergesetzt hat. Ich nehme daher seine Einschätzung der Situation im Land sehr ernst, weil ich eben weiß, dass er genau hinsieht, keine romantisierenden Vorstellungen hat und seine Handlungen genau abwägt - sonst hätte er seine Reisen möglicherweise an der ein oder anderen Stelle nicht überlebt.

Nun hat er sich trotz Beobachtung der Entwicklung noch einmal in dieses Land, das ihm so wichtig ist, hineingewagt. Falsch? Und gerät in Situationen, die das übersteigen, was er bisher dort erlebt hat, hört, dass eine andere Touristin sogar bei einer derartigen Aktion ums Leben kam. Und entscheidet sich, die Aktionen, die er erlebt, auf der "moralischen" Ebene, die dort herrscht zu beantworten. Falsch?

Jemanden in Ländern wie Äthiopien, der nicht z.B. durch Bildung Einsicht in andere Wertesysteme gewonnen hat, dort über humanistische Werte belehren zu wollen, erzeugt eher irres Gelächter denn wertschätzendes Verständnis. Thomas beschreibt es ja ganz schön an seinem Beispiel. Und all die ach so humanistischen Menschen, die durch dieses Land gereist sind, haben bisher nichts, aber auch gar nichts ändern können; auch Menschen für Menschen musste feststellen, dass ihre sicher wohlüberlegte Form der Hilfe-zur-Selbsthilfe-Aktion nur bei einer bestimmten Gruppe und bei sehr vielen eben nicht funktioniert.

Und nun sitzen wir hier in unserem sorgenfreien, gutmeinenden Leben und maßen uns an, diese Situation objektiv beurteilen zu können. Ich bin mir sicher, dass wir es nicht können. Das heißt nicht, dass wir nicht sagen können: "Ich finde Deine Reaktion nicht richtig." - und ich selbst eiere auch immer noch rum, einen klaren Standpunkt zu finden. Vielleicht brauche ich den aber auch nicht? Mir reicht es aus, auszudrücken, dass ich mich dabei unwohl fühle, wenn ich das lese (habe ich bereits persönlich getan), aber dass ich nicht beurteilen kann, ob das wirklich objektiv "falsch" ist, was Peter getan hat. Es gibt in mir auch die Ahnung, dass er eben genau dadurch, in dem er das tat, was wir hier alle ablehnen, für wesentlich mehr Respekt Fremden gegenüber gesorgt hat, als wir uns das aus unserer friedliebenden humanistischen Perspektive denken können (und gleichzeitig schüttelt es mich, dass ich hier so was schreibe...). Es wäre die Aufgabe der Erwachsenen dort, für diesen Respekt zu sorgen, und diese nehmen die Aufgabe schlichtweg nicht wahr. Und vielleicht hat Peter tatsächlich ihnen, den dort Anwesenden, eine "Lehrstunde" erteilt? (Und schon wieder schüttelt es mich, dass ausgerechnet ich hier so etwas schreibe.) Aber mir ist zumindest klar, dass die Situation viel zu komplex ist, als dass wir sie mit unserem einfachen Gut-Böse- oder Schwarz-Weiß-Schema angemessen erfassen und beurteilen können.

Die Tatsache, in der Beurteilung unterschiedlicher Meinung sein zu dürfen, das macht unsere Demokratie ja gerade aus. Was mich in dieser Diskussion irritiert, ist die "Moralkeule", die hier geschwungen wird und die "Überheblichkeit", mit der Peter aufgefordert wird, doch einfach da nicht lang zu reisen oder was auch immer. Kritik äußern: sicher. Zu "wissen", was richtig oder falsch ist, empfinde ich als anmaßend. Peter stellt sich der Kritik, er hätte die ganze Aktion ja auch einfach nicht erwähnen können. Er schreibt davon und stellt sich damit der Diskussion und er gibt einen Einblick in die unglaublich schwierige Lage in einem Land, das ja anscheinend so viele Menschen so faszinierend finden, dass es sie da immer wieder hinzieht. Wir können diese Diskussion hier gerade nur führen, weil Peter so offen war.

(Ach ja, wer mal was lesen will zu dem Entwicklungsmodell, das diese Unterschiede ganz nett erklärt, lese "Gott 9.0" - man muss nicht religiös sein dafür. Sehr spannend und erhellt Diskussionen wie diese hier beträchtlich.)