durch die 10. Tür weht laue Sommerluft

von: veloträumer

durch die 10. Tür weht laue Sommerluft - 09.12.13 23:09

KAPITEL IV
Skadarsee und die südliche Küstenregion: Seerosen nicht nachgezählt, Zuckerberge im Ensemble-Auftritt, Meeresrauschen nackt und fischig, trendy Jetset-Life trifft 2000-Jährigen

Musik: Wir hören die albanische Sängerin Fjoralba Turku, die nunmehr in München lebt und sich in der Jazzszene bereits einen respektvollen Namen mit vielseitiger und tiefgehender Ausdruckskraft gemacht hat, hier mit einer luftigen, brasilianischen Sommernote: Fjoralba Turku „Indian Summer“ (5:20 min.).

Fr 28.6. Virpazar – Gornje Seocca – (Donji Murici) – Ostros – Stegvas (916m?/~500m?) – Vladimir – (Ulcinj) – Ada Bojana
87 km | 13,2 km/h | 6:34 h | 1350 Hm
W: sonnig, mäßig heiß, windig, max. ca. 30 °C
E (R Konoba Kod Ranka): Käse, Dorade, Kart., Spinat, Karamelltorte, Rw, Cafe 26 €
Ü: C Ada 8,40 €

Virpazar hat nur wenig Platz sich zwischen sumpfigem Flussdelta und See auszubreiten. Zu den beiden anderen Seiten steigt das Gelände unmittelbar an. Die Infrastruktur aus Hotels, Konobas, Privatvermietern und kleinen Läden einschließlich eines Supermarktes drängt sich eng um Aussichtsplätze, die idyllische Stimmungen verbreiten – ganz besonders in den Morgen- und Abendstunden. Wer die ureigene Wasser-, Pflanzen- und Tierwelt des Skadarsee kennen lernen möchte, muss sich einem der Bootstourenanbieter anvertrauen. Die Exkursionen sind in kleinen Booten in Gruppen oder auch einzeln möglich.

Ich bleibe allerdings meinem Landweg treu und folge der Seeroute nach Südosten. Dabei wird jenseits von Virpazar nie mehr Seehöhe erreicht, sofern man keine Stichstraße zu den kleinen Fischerorten einschlägt. Diese sind nur mit erheblichen, zusätzlichen Höhenmetern zu erkaufen. Der schönste Panoramaabschnitt führt bis Murici und noch ein Stück darüber hinaus. Das Seepanorama ist nicht durchgehend, jedoch sind auch die Zwischenabschnitte ohne Weitsicht von herrlicher Naturschönheit. Einige fast überwucherte Seitenstraßen lassen vielleicht noch ein paar ergänzende Ausflüge zu. Anfangs überwiegt der Blick auf die Zuckerberge, hindurch durch Spinnennetze mit an Seefliegen satt gefressen Riesenkreuzspinnen, die Straße von Zypressen gesäumt. Die Ufer zur anderen Seite verschwimmen im diesigen Schleier. Kleine Weingärten folgen, mit wenigen, überrankten Häusern, Kornblumen, leuchtende Sträucher, Schmetterlinge. Um ein Haar wäre ich einer Einladung zum Umtrunk gefolgt – ein Ex-Gastarbeiter, in Deutschland gewesen, wollte mir schon morgens lokalen Rebensaft einschenken.

Bei Murici wechselt die toskanische Atmosphäre zu karstigen Hänge, Seerosenblätter und Inseln verbleiben noch unterhalb. Weiter Richtung Ostros taucht man ohne Aussicht in Kastanienwald ein, dazwischen Weideland oder unzugängliche Macchia mit Felsklötzen. Ostros ist die letzte Verpflegungsmöglichkeit, wenngleich ein recht schmuckloses Dorf, wo man viel Zeit mit Nichtstun in Cafes verbringt. Gab es zuvor noch etwas Schatten, liegt nun der Aufstieg zu Passhöhe gnadenlos in der Glut der Mittagssonne. Zweifelhaft bleibt die Passhöhe in zweifacher Hinsicht: Weder ist ein Talübergang erkennbar (es ist ein Hoch- und Wendpunkt mit Sendemast), noch lässt sich die angegeben Passhöhe verifizieren. Mein Tacho misst gut 500 m im Gegensatz zu „offiziellen“ 916 m. Mein Gefühl sagt mir, dass der Tacho näher an der Wahrheit liegt.

Mit weitem Blick sieht man nach Albanien und die Stadt Skodher, das Meer im Südosten bleibt im Sommerdunst nur angedeutet. Die Abfahrt ist unspektakulär, die Besiedlung nimmt zu, Minarette beherrschen die Ortszentren. Ich erfahre hier erstmals, dass mein Geburtsdatum im Pass gefälscht sein muss. Ein Mann – wohl albanische Identität – fragt mich nach meinem Alter ob der gewaltigen Radtour durch die montenegrinischen Berge. Ich zitiere das mir seit Jahrzehnten eingebläute Alter. Der Mann wehrt mit Händen und Füßen ab. „Niemals, sie sind nicht älter als 35 Jahre!“ Nun gut, so selbstbewusst mir zugeteilt, nehme ich diese Botschaft an und vermerke ab sofort ungefähr 15 Jahre mehr Jugend als zuvor.
party

Ab der Zufahrt von Albanien herrscht stärkerer Verkehr durchgehend bis Ulcinj. Es geht aber nicht durchgehend abwärts zum Meer, sondern ein weiterer kleiner Hügel ist zu überwinden, auf den eine kleine Schlucht folgt. Die Meerebene bleibt lange ungesehen, erst kurz vor Ulcinj öffnet sich die Landschaft. Ich bleibe der Stadt fern und nehme gleich die flache Gerade nach Ada Boiana. Ferienwohnungen, Privatvillen und Hotels begleiten die Straße in noch lockerer Bebauungsdichte. Die weiten Sandstrände sind nicht einzusehen, die Beliebtheit läst sich aber am Betrieb ablesen. Die letzten Kilometer werden ruhiger, nur unmittelbar am Flussdelta sind wieder Ferienwohnungen und Fischerhütten – hier jedoch landschaftlich gefällig am Flussufer eingebunden. Zahlreiche Restaurants liegen mit Holzterrassen direkt am bzw. über dem Flusswasser, das nur wenig später ins Meer fließt.

Gerade hat es auf der nur einspurig befahrbaren Brücke zur Insel Ada Boiana gekracht – nur Blechschaden, aber für Autos durch das Nadelöhr zwangsweise Staustillstand. Kurz nach der Brücke gibt es zum Camp eine Vorkontrolle. Die Durchfahrt hier gilt nicht nur dem Camp, sondern auch einigen Fischrestaurants, die nur per Straße durch das Camp möglich ist. Ada Boiana ist ein bereits lange existierendes FKK-Camp – lange Zeit das einzige in Montenegro gewesen, dass – so die Reiseführer – schon bessere Zeiten erlebt hat. Der bedenklich kritische Verfall hält sich aber in Grenzen. Zumindest die Bungalows erscheinen gut hergerichtet und sind über schmale Plattenwege nebst Oleanderbüschen verbunden. Verschiedene Sportplätze sind vorhanden. Die Zelt- und Mobilheimwiese befindet sich auf einer weitgehend sonnigen Fläche. Sucht man den Schatten am Rande, wird man von Blutsaugern heftig attackiert, zumal dort das hohe Gras nicht gemäht wird. Die Sanitäranlagen sind dann schon eher sehr bescheiden – aber was braucht schon ein Nackter im Urlaub?

Sa 29.6. Ada Bojana
0 km | 0,0 km/h | 0:00 h | 0 Hm
W: bewölkt, sehr windig, max. ca. 23 °C
E (R Misko): Fischsuppe, Vorspeisenplatte m. Gambas, Tintenfischrisotto, Käse, Ww, Melone, Cafe 22,30 €
Ü: C Ada 8,40 €

Wetterpech an Ruhetagen – das kenne ich zu gut. verärgert Tradition verpflichtet und der ganze Tag war fast Wolke pur durch den Wind auch reichlich kühl. Windschutz gibt es zudem am aschgrauen Sandstrand kaum. Sobald die Wolkendecke sich ein wenig lichtete, konnte man es aber auch wieder gut ertragen. Nicht mal schlecht für einen nackten Strandspaziergang zum südlichen Flussdeltaarm, der die Grenze zu Albanien markiert. Ein Grenzübertritt ist hier zu Land nicht möglich. Das Spiel zwischen schaumigem Meer, stäubendem Strandsand, Ballett-tänzelnden Stelzwurzelbäumen und zu Skulpturen arrangiertem Zivilisationstreibgut bereitet meditative Spannungsmomente, die das Hektische, das Rastlose in Frage stellen. Der Radnomade grübelt, sind es nun die ruhenden Momente auf Reisen, die die großen Gefühle ausmachen oder sind es die bewegten Phasen dazwischen?

Das Strandrestaurant im Camp habe ich bei einer kleinen Speise am Mittag getestet – es ist in Ordnung, aber laut einem deutschen Campingnachbarn sollte man nicht zuviel erwarten. Den besondern Genüssen nicht abgeneigt, suchte ich daher an beiden Abenden bessere Fischrestaurant nahe bei auf, die vorzügliche Küche anbieten. Der stimmungsvollen Lage im Flussdelta muss die Sitzung auf den Terrassen abends entfallen, da es doch leicht windig und kühl wird und die leidlich bekannten Blutsauger auch hier vor Angriffen nicht zurückschrecken. Aber die von außen manchmal nur wie einfache Holzbuden wirkenden Restaurants verfügen im Innern über ein stets sehr stilvolles, ansprechendes wie meerestypisches Ambiente. Mit einer Russen-Disco, die nachts zum Camp herüber schallt, muss man manchmal bis zum frühen Morgen rechnen, aber nicht jede Nacht.

So 30.6. Ada Bojana – Ulcinj – Busat – Stari Bar – Zupci – Sutorman vrata (805 m) – Virpazar
91 km | 12,4 km/h | 7:18 h | 1405 Hm
W: teils sonnig, teils bewölkt, recht kühl, 18-24 °C
E (H): Fischsuppe, Salat, geb. Forelle, Kuchen, Rw
Ü: H Pelikan 43,50 € inkl. Essen/o. Fr.
B: Stara Maslina 1 €

Ulcinj – eine Hochburg der albanischen Bevölkerung in Montenegro – ist ein sehenswertes Städtchen mit einer bevorzugten Lage in einer geschützten Bucht. Während die offenen weiten Sandstrände südlich liegen, lagern mehrere kleine Felsbuchten mit kleinen, intimen, von Pinienbäumen beschirmte Nischenstrände vor dem südlichen Stadtrand und bereiten wohltuende Oasen, recht unbeeinflusst vom sonst hektischen touristischen Treiben. Die gepflegten und mit Süßwasserduschen ausgestatteten Plätze sind allerdings kostenpflichtig, wobei zu früherer Stunde ein kleines Bad noch ohne Kassierer möglich scheint. Nebst einem FKK-Strand gibt es auch einen Frauenstrand mit angeblich fruchtbarkeitsfördernder Schwefelquelle. Die Erfolgsquote des Badewassers ist bisher noch nicht ermittelt worden. schmunzel Der Zugang durch das männliche Geschlecht würde vielleicht die Fruchtbarkeit noch mehr steigern. lach (okay, das war jetzt Macho-Modus. unschuldig) Direkt an der Flaniermeile ist hingegen der völlig überfüllte Stadtsandstrand – die auf Zentimeter verdichtete Fleischbeschau vor der Silhouette von Minarett, großflügeligem Freiheitsdenkmal und Zitadelle – nicht ganz ohne widersprüchliche Kontraste aus Bademodenprüderie und erotischen Straßenoutfits.

Die nächste Passage verläuft zunächst hinter einem Hügel ohne Meersicht auf der Hauptstraße. Sobald die weitgehend unzugängliche Felsenküste umfahren ist, stößt man wieder ans Meer – die Straße oberhalb am Hang geführt, aber nicht ohne einige Auf und Abs. Nicht alle, aber doch einige Küstenabschnitte sind hier bedroht von unschöner Bautätigkeit, das Wort Verschandelung wäre aber übertrieben, zumal es immer noch weitgehend unbebaute Buchten gibt. Bar ist eine Stadt mit gewichtigem Industriehafen und großen Lagertanks für Treib- und Brennstoffe, die man auch gut aus der Ferne bei der Auffahrt zum Sutorman sehen kann. Ohne in die Neustadt einzufahren nehme ich Kurs auf Stari Bar, jene Ruinenstadt, die verschiedene Epochen vom Mittelalter an in sich vereint, gleichwohl mehrfach und zuletzt durch das Erdbeben 1979 endgültig zerstört. Leider kommt man durch die vielen Treppen und Brüche nicht mit dem Rad – auch nicht schiebend. Mangels Abstellmöglichkeit fürs Rad beschränke ich mich auf ein paar äußere Eindrücke an der Stadtmauer, wo sich auch zunehmend Restaurants und Bistros etablieren.

Eine wundersame wie auch einfach zu erreichende Sehenswürdigkeit liegt aber noch unmittelbar auf dem Weg nach Stari Bar. Es sind schlicht Ölbäume – etwas mehr als schlicht, denn Stara Maslina bezeichnet einen kleinen Garten dieser Ölbäume, deren mittig in herausgestellter Position und 10 m Durchmesser erreichender Veteran schon stolze 2000 Lebensjahre überschritten hat – also ein echter Zeitzeuge von Christi Geburt! Auskünfte über alte Zeiten gibt der Bäum aber nicht. Die Sprachlosigkeit, die sich Bäume angewöhnen, weil sie dem Treiben der Welt angewurzelt zuschauen müssen, macht auch vor deren weisesten Vertretern nicht halt. Fast möchte man meinen, dass das Schweigen dieses Olivenbaums noch tiefer klingt als das anderer Bäume, da die Geschichte der erlebten Tragödien so lang und unerträglich erscheint, dass man unweigerlich hier den Hut – sorry, in meiner Situation natürlich – die Mütze ziehen muss. Er (oder Sie?) darf sich als einer der ältesten Olivenbäume der Welt und als ältester Repräsentant der europäischen Baumzunft insgesamt vorstellen. Sein Altersbezug beträgt eine sozialstaatlich harmlose, gut verträgliche Lebensleistungsrente in Höhe von einem Euro (ergänzende Broschüre 3 €, saubere Toilette kostenlos) – die habe ich gerne gezahlt, braucht er nicht mehr auf die Lebenslügenleistung der deutschen Rentenpolitiker warten! schmunzel Der Olive – ein Symbol für Frieden, Wohlstand, Gesundheit, langes Leben, Lebensfreude und Liebe – ist in Stari Bar selbstverständlich ein jährliches Fest gewidmet (im Herbst). Der gepresste Fruchtsaft der silbrig glänzenden Bäume aus der Umgebung Bar genießt international hohes Ansehen.

Direkt von Stari Bar die Auffahrt zum Sutorman zu finden ist nicht leicht, wohl hätte ich im Idealfall weiter nach Bar einfahren müssen, um eine Ausschilderung zu finden. Die Topographie ist nicht einfach zu überblicken, den Weg erfragen war nahezu unmöglich. So bin ich letztlich auf einer nördlichen Nebenstrecke gelandet, die allerdings unrhythmischer verläuft und irgendwann in eine Piste übergeht. Es gibt hier wohl auch noch eine weitere MTB-Variante, die nochmal anders zum Sutorman verläuft. Die Sutorman-Straße ist mittlerweile dem Verfall preisgegeben, weil längst der Tunnel weiter nördlich den Transitverkehr abfängt. Ob diese Straße erhalten bleibt, hängt vielleicht auch davon ab, ob neue Bewohner sich dort niederlassen. Auch auf der Nordseite nach Virpazar sind deutliche Verfallszeichen zu sehen. Dort ist die in den Karten kleiner gezeichnete Parallelstrecke durch die fruchtbare Flussebene bedeutender geworden, wo die eine aufblühende Weinwirtschaft zu beobachten ist. Die Sutorman-Strecke bekommt von mir landschaftliche Bestnoten – sehr stimmungsvoll.

Mo 1.7. Virpazar – Rijeka Crnojevica – ? (? m) – Cetinje – Seostik (876 m) – Kosmac – Budva – Sveti Stefan/Praskvica
94 km | 12,5 km/h | 7:24 h | 1565 Hm
W: sonnig, 24-28 °C, am Seostik sehr windig
E (H/R Adrevic): Griech. Salat, gebrat. Fleisch, Reis, Gem. in Sahnesauce, Rw 26 €
Ü: C Crvena Glavica 6,50 € (kalte Du.)

Kaum weniger eindrucksvoll als die Seeroute nach Süden ist die Flussdeltaroute nach Rijeka Crnojevica. Zwar fährt man häufiger auch ohne Sicht auf die kleine Bucht bzw. den Fluss Crnojevica, jedoch sind die Ausblicke auf die Zuckerberge hier von solch eindrücklicher Schönheit, dass man glauben möchte, hier wurde Landschaft von geübten Architekten modelliert, die auch in der Phang-Na-Bucht Thailands gearbeitet haben müssen. Die schimmernden Wasserspiegel scheinen kalkuliert die Augen des Betrachters blenden zu wollen, sodass er nicht alle Farbtöne erahnen möge, die diese Ausblicke zu anderen Tageszeiten bereithalten. Der Besucher soll zum Verweilen, zur Wiederkehr gezwungen werden. Hier wird dem Touristenspion heimlich Opium ins Auge geträufelt, dessen betörende Wirkung nachhaltig benebelt. Manche Wasserfläche verschwindet auch gänzlich unter den Seerosenblattteppichen – eine scheinbar dezidiert geordnete Blattknüpfung, wie sie man nur von perfekten Teppichweberinnen aus dem Orient erwarten dürfte. Es würde auch nicht wundern, wenn die Sage, dass Christus über das Wasser gelaufen sei, hier erdacht worden wäre, da man sich geradezu verführt fühlt, die Wasserflächen über die Blätter zu betreten.

Ja, und dieser Ort illuminierender Schönheit ist gleichwohl ein Ort des Grauens, eines bestialischen Krieges – ein Ort des offenen Kannibalismus. Der Asphalt ist übersäht mit Heuschrecken – mit platt gedrückten, ausgesaugten Chitinpanzern und klebrigen , eiweißhaltigen Weichteilresten, die in der heißen Sonne dahinschmelzen und gerinnen, sodass sie eine hervorragende Dichtungsmasse für schlecht geflickte Fahrradreifen abgeben. Der Tod kommt nicht durch die Autos, derer es hier viel zu wenige gäbe, als dass sie den Massenexodus der grünen, gelben und braunen Winkelbeinweitspringer veranlassen könnten. Nein, sie überfallen sich gegenseitig – wohl nicht selten mit der liebreizenden Absicht und Ausführung der Kopulation, der aber geradezu hinterhältig die martialische Fressgier folgt, als unterlägen sie einer Verwechslung der den Grashalmen verwirrend ähnlichen Farben ihrer Artgenossen. Der Angefressene erlebt sein Schicksal bei vollem Bewusstsein, indes ihm manchmal gelingt sein Leben mit reduzierter Körpermasse als Diätheuschrecke fortzusetzen – wohl aber nur kurz. Dieser Heuschreckenkrieg ist hier ebenso Teil der Natur wie die verfänglichen Zierbilder der Ausblicke. Oh du grausame Schönheit!

Nach mehreren Auf und Abs erreicht man die Flussebene bei Rijeka Crnojevica, zugleich immer noch See, da keine Gefälle dazwischen. Ausflugsboote für Nationalparkexkursionen kann man auch hier mieten. Fisch ist frisch dürfte die Losung des Ortes mit seinen zwei Brücken lauten, von deren die ältere Postkartenkultstatus genießt. Ich fotografiere mit den letzten Zuckungen meiner Kamera das Steinbogendenkmal, und muss mir folgend die Landschaft noch stärker einschärfen, da ohne Bilddokumentator. Ich fahre komplett die alte Straße nach Cetinje, eine vielfach steile Passroute, von der der untere Teil noch mit wenigen Autos geteilt werden muss, bis zur Verzweigung zur nahe heranrückenden neuen Straße von Podgorica nach Cetinje. Ebendort kann man auch eine dritte Variante durch Weiler und kleine Dörfer antreten – sie führt zunächst in die Talmulde und stößt im oberen Teil wieder auf die alte, aber mittlerweile stark verfallen Passstraße. Die Mischung aus karstigen Felswelten, weiten Ausblicken, Schmetterlingen und Blumenschönheiten macht diese Strecke zu einem Hochgenuss, der allerdings mit viel Schweiß erkauft werden muss.

Eine schattige Oase liegt unmittelbar vor der der Einmündung auf die neue Straße, aber eben noch an der alten, mit einem guten Restaurant und großer, besser: großartiger Aussichtsterrasse. Ein solch außergewöhnlich exponierter Platz wäre in den bayerischen Alpen so überlaufen, dass Weißwürste nur noch in Stehplätzen einzunehmen wären. Hier aber scheint das Ende der Welt zu sein – immerhin, bin ich nicht ganz der Einzige. Bei der Hitze tut gut ein Gericht wie Melone mit Schinken – herzhafte Frische, der Geschmack eines alten Kindheitssommertraums. Ich bekomme noch einen Tipp für ein Fotogeschäft in Cetinje, das sich aber nur als Postkarten- und Bilderrahmenladen erweist. Überhaupt enttäuscht mich Cetinje besonders bei diesem ersten Besuch, von einer royalen Pracht der ehemaligen Königsstadt ist nichts zu sehen und zu spüren – vielleicht mal abgesehen von recht breiten, planquadratischen angeordneten Straßenzügen. In der gerade aufgerissenen Straße im Zentrum wiegt die ermattende Mittagshitze noch schwerer. Der geringste Verlust an sehenswürdiger Strecke führt nach Budva, um hoffentlich eine Ersatzkamera dann zu erwerben. Tatsächlich ist die Strecke zwischen Cetinje und der Passhöhe Seostik eine recht belanglose bis trostlose, wenig aufregende Karst- und Buschlandschaft mit einer Zwischenmulde, nach der ich mich auf der recht stark befahren Straße zäh und mit bissigem Gegenwind zur Passhöhe quäle (nicht so steil, jedoch unangenehm).

Auf den Serpentinen zur Budva-Bucht hinunter hat man jenen Urlaubsblick, von denen die meisten Sommermeerestouristen träumen dürften: Blaues Meer, von einer großen Bucht mit Stränden und Häfen mit Luxusjachten umschlossen, zahlreichen Hotels wie auch Hotelschiffen auf dem Wasser und einer pittoresken Altstadthalbinsel unter roten Dachziegeln wie aus dem Meer für das Auge des Betrachters geboren. Soviel Schönheit zieht natürlich Publikum an – jeder möchte an die schönen Orte und jeder braucht sein Bett, seinen Autostellplatz und seinen Strandschirm – naja, nicht jeder, aber viele wollen es so. Und dafür wird hier kräftig gebaut. Meine angespannte Situation mit dem Kameradefekt macht mich mürbe, genießen fällt mir schwer und ich habe nur das Ziel im Menschen- und Autogewirr einen Fotoladen zu finden. Aber ich komme ja nochmal wieder – für die Schönheiten. Nach gelungenem Erwerb einer Ersatzkamera kam ich wieder auf Normalpuls, musste aber wegen einbrechender Dämmerung wiederum Gas geben, um noch den ersuchten Campingplatz zu erreichen. Ein Kellner vom Terrassenrestaurant ist gleichwohl radbegeistert und muss mein Rad bemustern. Ihm wird gleich klar, dass es noch gewisse Unterschiede zwischen Produkten deutscher Radmanufakturen und dem montenegrinischen Veloladenangeboten gibt.

Di 2.7. Sveti Stefan/Milocer
0 km | 0,0 km/h | 0:00 h | 0 Hm
W: sonnig, ca. 30 °C
E (R ?): Rw, Salat, gegr. Tintenfisch, Früchte-Eisbecher 28 €
Ü: C Crvena Glavica 6,50 € (kalte Du.)

Der zweite Ruhetag folgte durch die Routenänderung in kürzerem Abstand zum ersten als geplant, doch wollte ich mein Konzept beibehalten. Das Camp – wie schon erwähnt mit spartanischer Ausstattung – liegt mit schönen Nischenplätzen direkt über dem Meer, das man aber unmittelbar vom Platz nicht oder kaum sieht. Der Strandzugang war durch einen Erdrutsch erschwert. Ist man erst mal an dem Strandabschnitt – teils Kies, wenig Sand – mehr Felsbrocken, mit direkten Blick auf die Insel Sveti Stefan – ein Luxuskleinod – eigentlich reicht der Blick auf das klein Inselchen, denn der ist das, was in die Hochglanzprospekte sicheren Eingang findet. Wer dort wohnt, hat diesen Blick nicht – es gibt also hier für weniger als 10 Euro mehr als dort drüben für bis 2000 Euronen. So ungerecht ist Luxusleben – die Reichen haben das Geld, die Armen den Traumblick. schmunzel

Der Strand ist nackt nutzbar, richtig abgegrenzt ist nichts, dafür versperrt ein mächtiges Felstor den trockenen Übergang zum Nachbarstrand mit Apartments dahinter und direkt gegenüber Sveti Stefan. Eventuell entsteht etwas südlicher, wo ein Fahrweg bis ans Meer reicht, eine Fischerkneipe – so richtig weiß das aber wohl keiner. Das einst vorhandene Strandbistro, wo auch Grillfisch angeboten wurde, ist verfallen – ob aus wirtschaftlichem Misserfolg heraus oder nur wegen des Erdrutsches, bleibt unklar. Besonders emsig scheint man nicht am Wiederaufbau interessiert zu sein. Schade. Auf dem Camp wird auch gebaut – allerdings ohne zu stören, eher ein kleiner Bau, wohl ein Privathaus, keine Apartmentanlage.

Zu später Stunde erfüllt das Lichtermeer von Budva mit Discolasern den Nachthimmel. Die Musik ist laut genug, auch noch hier gehört zu werden – es muss aber schon der Wind eher günstig stehen – Ruhe ist also meist gesichert. Milocer (mehrere Restaurants, Hotels, Apartmenthäuser, kleine Läden/Supermarkt) bleibt recht beschaulich, auch wenn die Speisekarten sich mehr an Serben und Russen richten als an Montenegriner oder Westeuropäer. Es hat auch seinen Vorteil, eine Luxusinsel sein Gegenüber zu nennen – da wird weniger heftig gebaut und gedudelt.

Mi 3.7. Sveti Stefan/Milocer – Petrovac – Poljice (665 m) – Gornji Brceli – Utrg – Seostik (876 m) – Kosmac – Budva – Budva-Jaz
75 km | 11,6 km/h | 6:28 h | 1535 Hm
W: sonnig, ca. 30 °C
E (R Kiki): Tintenfischrisotto, Njesgu-Steak, Bier 23,30 €
Ü: C Jaz 6,80 €
B: Citadelle Budva 2 €

Nimmt man die Trubelzentren von Budva und Ulcinj sowie die Industriestadt Bar als Maßstab für die gesamte Magistralenküste, dann begeht man kräftiges Unrecht. Gewiss, mit Verkehr ist zu rechnen, aber erstaunlich ruhig wirken die sogar touristisch gut besuchten Orte an der Küste. Selbst das angeblich überlaufene Hafenstädtchen Petrovac gibt sich morgens recht verschlafen – unklar bleibt, ob der ganze Plastikspielkram genügend Käufer findet. Erst recht – so ist auf der aussichtsreichen Auffahrt zum Polijce-Pass zu sehen – sind die südlich liegenden Küstenstreifen noch nahezu unberührte Ruheflecken.

Zu den Radel-Geheimtipps zählt sicherlich die Querroute über Utrg zwischen den beiden Verbindungsstraßen Petrovac – Virpazar (bereits entlastet durch den Tunnel) und Budva – Cetinje. Das kleine Sträßlein windet sich mal durch schattige Wäldchen, klettert mal heftig in offener Sonne nach oben, bietet mal weite Blicke in hügelumsäumte Zwischentäler und durchstreift mal kleine Dörfer, die von landwirtschaftlichem Kleinanbau leben. Es besteht sogar – ebenfalls asphaltiert – Anschluss an die Honigroute zur Passstraße Rijeka Crnojevica – Cetinje, wohin es zwei Abzweige gibt (Ovtocic, Prekornica, auch als Rundkurs fahrbar).

Besonders geschickt war meine Routenänderung deswegen, weil ich mit der Einmündung auf die Seostik-Straße kurz vor der Passhöhe erneut die Gelegenheit bekam, die Panoramafahrt in die Budva-Bucht zu wiederholen – diesmal aber mit funktionierender Kamera. So ist denn auch mein zweiter Besuch von Budva von ausgeglichener Gelassenheit und wohl gestimmter Muße geprägt. Ich begebe mich sogar auf den dichten Stadtstrand direkt zu Füßen der Zitadelle, um dem Volkstrieben ein wenig zuzuschauen. Der Bummel durch die Gassen ist mit dem prall gefüllten Leben nun ein Genuss, jede Ecke hält ein Kleinod bereit. In der Bibliothek der Zitadelle spüre ich den leichten Sommerwind durch die Fenster, während meine Blicke verklärt über die historischen Landkarten des alten Montenegros wandern.

Nach Jaz, zur nächst größere Nachbarbucht, ist es nur einen kleine Hügel weit mehr – allerdings bei starkem Verkehr (direkt bei Budva gibt es nur kleine, stark besuchte Felsbuchten). In Jaz ist Platz! Der weite Strand wird tagsüber wohl gut besucht, abends ist das Interesse bescheiden, das Nachtleben von Budva scheint zu verlockend. Die große Campingwiese hier unter Espenlaub wirkt ein bisschen langweilig wie in einer Flussaue im deutschen Binnenland, das Meer versteckt sich hinter dem Promenadenschutzwall. Die spartanische Sanitäreinrichtung des Camps ist noch ausbaufähig und vom Jetset-Ambiente des nahen Budva mehrere Putin-Einheiten entfernt. Die Restaurants sind abends nur schwach besucht, die Qualität aber sehr ordentlich. Noch ein später Strandspaziergang – weiches Meerwasser am nackten Fuß bei Mondlicht – die Augenblicke sind selten auf der Reise – ich weiß, wieder zu wenig Muße für mehr Meer – der ewig Zweispalt zweier Lieben – Berge und Meer. Zeit ist kostbar, Momente sind es noch mehr.

Bildergalerie zu Kapitel IV (139 Fotos):



Fortsetzung folgt